kommt wie gerufen
Señor de Gamez war. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln, sondern hatte nur ganz unauffällig ein Buch kaufen und wieder gehen wollen. Wie hatte sie sich nur derart treiben lassen können? Was würde jetzt Mr. Carstairs von ihr denken? Und Señor de Gamez, wenn sie am 19. August wiederkam, an dem er Mr. Carstairs’ Kurier erwartete und sich der amerikanischen Touristin gegenübersah, die keine Gänse war?
»Wie gräßlich«, sagte sie und hastete mit glühenden Wangen weiter. »Wie entsetzlich unwürdig von mir. So benimmt sich eine Geheimagentin nicht.«
Völlig zerknirscht kehrte sie ins Hotel zurück und strafte sich damit, daß sie beschloß, die Calle el Siglo bis zum 19. August nicht wieder zu betreten. Als Strafverschärfung legte sie eine Liste über alle jene Dinge an, die sie in den nächsten vier Tagen zu erledigen hatte. Sie mußte Reiseandenken für Roger, Jane und die Enkelkinder aussuchen, ihren Bekannten Ansichtskarten senden. Sie ging sogar so weit, einige Fotos zu machen. »Liebe Miß Hartshorne«, schrieb sie ohne Begeisterung, »Mexiko ist sehr schön. Besichtigt habe ich…«, und sie führte einige Sehenswürdigkeiten an. All diese Pflichten erschienen ihr unerträglich langweilig, weil sie ihr die Gelegenheit raubten, den Papagei zu bewundern, für den sie nach so langer Trennung geradezu mütterliche Zuneigung empfand. Diese Isolierung bewog sie dazu, das Buch aufzuschlagen, das Señor de Gamez ihr gegeben hatte, und zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, daß sie den Karten wirklich Vergnügen abgewann. Die ersten zehn Spielarten waren ganz einfach, und sie erlernte sie rasch. Je näher der 19. August rückte und je nervöser sie wurde, desto intensiver stürzte sie sich auf schwierigere Spiele. Oft trug sie die Karten in der Handtasche bei sich und legte sie auf einer Bank im Park oder auf einem Cafetisch auf. Sie fand, daß Patience nicht nur beruhigte, sondern auch ihren Geist anregte, und fragte sich, ob sie Señor de Gamez davon erzählen sollte, wenn sie ihn wieder aufsuchte.
»Lieber nicht«, entschied sie bedauernd. Diesmal mußte sie die Rolle der Geheimagentin wirklich musterhaft spielen. Sie wollte kühl, unpersönlich und sachlich sein.
Am 18. August erledigte Mrs. Pollifax die noch ausstehenden Einkäufe für die Familie, und als sie am Abend ins Hotel zurückkehrte, bedeckten buntgewebte mexikanische Schultertücher den Tisch, den Schubladenkasten und die Stühle.
»Es sind ja nicht die allerbesten Stücke«, sagte sich Mrs. Pollifax, als sie das Licht abdrehte, »aber sechs Tücher kosten viel Geld, und die Geschenke bezahle ich natürlich aus meiner Tasche.«
Mit diesem Gedanken schlief sie ein und träumte von Umhängetüchern, die sich über Möbelstücke breiteten und von einem sprechenden Papagei bewacht wurden.
5
Als Mrs. Pollifax am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wußte sie, daß der Tag angebrochen war, auf den sie gewartet hatte, aber sie verspürte nicht die leiseste Erregung. Sie hatte zu lange gewartet und sich, das mußte sie ehrlich zugeben, in den letzten Tagen ziemlich gelangweilt. Einzig ihre Patiencekarten hatten sie zerstreut, und als sie ihr einfielen, steckte sie das Spiel in ihre Handtasche, um es tagsüber bei sich zu haben. Sie unterzog den Inhalt ihrer Tasche einer kurzen Musterung und mußte wieder einmal feststellen, daß sich die erstaunlichsten Dinge darin angesammelt hatten: ein Taschenmesser für den Geburtstag ihres Enkels, zwei Tafeln Schokolade, ein Päckchen Papiertaschentücher, eine Dose mit Heftpflaster, Abrisse von Reiseschecks, zwei neue Lippenstifte und die flachgedrückte Hülse eines alten. Da mußte sie bald einmal Ordnung machen. Aber nicht jetzt. Sie zog den Reißverschluß ihres besten marineblauen Kleides zu, und weil es jetzt am Morgen so kühl war, vervollständigte sie ihr Kleid mit der prachtvollen handgewebten guatemalischen Wolljacke, die sie sich selbst geschenkt hatte.
Sie aß im Speisesaal ein bescheidenes Frühstück und vertrieb sich die anschließende Stunde damit, daß sie in der Hotelhalle Patiencen legte. Um 9.45 Uhr ging sie durch die Calle el Siglo und wiederholte im Geiste die Worte >Zwei Städte< und Madame Defarge. Die Tür des Buchladens zum Papagei stand offen. Mrs. Pollifax trat mit einer Miene, die sie für vorbildlich gleichmütig hielt, ein, blinzelte ein wenig in der Dämmerung, die so unvermittelt auf den grellen Sonnenschein gefolgt war, und
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