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kommt wie gerufen

kommt wie gerufen

Titel: kommt wie gerufen
Autoren: Dorothy Gilman
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sie oft zärtlich bezauberndes Gänschen< genannt. Das war seine Art, ihr gewisse ausgefallene Vorlieben zu verzeihen, die er nicht recht verstand. Auch die Kinder hatten sich, als sie größer wurden, angewöhnt, sie für ein bißchen verdreht zu halten.
    Verwundert dachte Mrs. Pollifax: »Vielleicht bin ich im Grunde wirklich nicht besonders vernünftig, und der Doktor hat ganz recht. Dann kann ich ja nicht glücklich sein, wenn ich unbedingt eine Rolle spielen will, die mir nicht liegt.«
    Der Arzt lachte noch immer stillvergnügt, hatte seine Brille wieder abgenommen und rieb sie mit dem Taschentuch blank. Aber die Bekenntnisstimmung war bei seinem schallenden Gelächter zerstoben und stellte sich nicht wieder ein. Er schrieb ihr ein Rezept für Antidepressionspillen aus, sie plauderten noch ein Weilchen unverbindlich, und dann ging Mrs. Pollifax.
    »Aber ich habe keinen Witz gemacht«, dachte sie auf dem Heimweg gekränkt. »Ich wollte wirklich Spionin werden.« Sie hatte sich auch mit Feuereifer darauf vorbereitet und war jeden Samstag mit ihrem Vetter John zur städtischen Müllablage gegangen, um ihm zuzusehen, wie er auf die Ratten schoß. Sie hatte sich wie eine Klette an ihn gehängt, bis er sich schließlich dazu herbeiließ, ihr zu zeigen, wie eine Flinte funktionierte. Zu besonders glücklichen Gelegenheiten hatte er ihr sogar gestattet, selbst zu schießen. Und dann waren da natürlich auch noch die Landkarten, über denen sie Jahr um Jahr mit wissenschaftlicher Gründlichkeit in ihrem Zimmer gebrütet hatte, so daß sie bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges imstande war, aus dem Handgelenk die Längen-und Breitengrade versteckter kleiner Inseln zu nennen, von deren Existenz bisher kein Mensch gewußt hatte. Was war ich doch für ein komisches Kind, dachte sie gerührt. Einsam, aber glücklich. Einsam war sie jetzt auch, aber leider so – nutzlos, so überflüssig. Sie hatte den letzten Montag noch nicht vergessen, als sie ihre Geranien aufs Dach ihres Wohnhauses getragen und ganz knapp an der Dachkante gestanden und hinabgeblickt hatte und unbedingt einen überzeugenden Grund finden wollte, warum sie den kleinen Schritt in die Vergessenheit nicht tun sollte. Es war ihr kein einziger triftiger Grund eingefallen. Selbst heute wußte sie noch nicht, was geschehen wäre, wenn der junge Mr. Garbot sie nicht zufällig gesehen und ausgerufen hätte: »Mrs. Pollifax! Um Gottes willen, treten Sie von dem First zurück!« Sie hatte gehorcht und bemerkt, daß sie zitterte.
    Davon hatte sie dem Arzt nichts erzählt. Offensichtlich mußte sie eine Möglichkeit finden, ihrem Leben neue Impulse zu verleihen, sonst würde sie jedesmal die gleiche Furcht befallen, wenn sie ihre Geranien aufs Dach trug. Und sie hatte ihre Geranien doch so gem.
    Sie stieg die Stufen zu ihrem Wohnhaus empor und stieß die schwere Glastür auf. In ihrem Brieffach lagen mehrere Rundschreiben, aber keine Briefe. Sie stopfte die Drucksachen in ihre Handtasche, schloß die innere Tür auf und mußte feststellen, daß Miß Hartshorne schon vor ihr beim Fahrstuhl angelangt war und jetzt dort Wache stand. Sofort fühlte Mrs. Pollifax sich und ihre Vorsätze zusammenschrumpfen. Miß Hartshorne konnte nichts dafür, daß sie Mrs. Pollifax so lebhaft an deren Mathematiklehrerin erinnerte, durch die es in ihrer Kindheit beinahe zur Katastrophe gekommen wäre, aber Mrs. Pollifax war ihr, entgegen jeder Vernunft, deshalb doch böse.
    »Mrs. Pollifax«, sagte Miß Hartshorne mit ihrer dröhnenden Feldwebelstimme.
    »Schöner Tag heute, wie?« sagte Mrs. Pollifax und zitterte ein bißchen. Der Lift surrte, und sie traten ein. Völlig verschüchtert überließ Mrs. Pollifax es Miß Hartshorne, auf den richtigen Knopf zu drücken und erntete dafür prompt einen mitleidigen Blick.
    »Warm ist es«, verkündete Miß Hartshorne, sobald der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte.
    »Ja, und so drückend«, stimmte Mrs. Pollifax bei. Dann raffte sie ihren ganzen Mut zusammen und sagte: »Planen Sie für diesen Sommer wieder eine Reise, Miß Hartshorne?« Das war weniger eine Frage als eine informative Feststellung, denn Miß Hartshorne plante dauernd Reisen, und tat sie es einmal nicht, dann führte sie die Diapositive ihrer bisherigen Fahrten vor.
    »Im September«, antwortete Miß Hartshorne entschieden. »Für den erfahrenen Touristen kommt ein anderer Monat überhaupt nicht in Frage.«
    »Ja, gewiß«, erwiderte Mrs. Pollifax demütig.
    Die Tür öffnete sich,
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