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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Wissen war verführerisch und die Leere vergänglich. Er konnte nicht verhindern, dass sein Geist sich wieder füllte, wie eine draußen stehen gelassene Dose sich mit Regen füllt. Der Mann wollte wieder etwas wert sein, und so ergab er sich, und die übertragene Erinnerung drang in ihn ein und sprengte die Stille für immer. Dann öffnete der Mann die Augen, traumatisiert und verraten.
    In einem Zimmer am Strand wartete ein Mädchen auf seine Taufe im Ozean. Am Fenster stehend, verdeckten seine schmalen Finger das Gesicht, während es die Lippen bewegte, sich bereit machte für eine Zukunft unter anderem Namen. Und in irgendeiner Wüstenstadt zwischen dem Strand und Las Vegas war ein Mann, der dem Ende seines Lebens entgegensah und bei seinem Tod nichts hinterlassen würde als eine Erinnerung und ein Stück unfruchtbares Land auf seinen Namen.
    Und irgendwo war auch Anna.
    Samson lag da, die Wange ins Gras gedrückt, als wäre er vom Himmel gefallen. Der Gedanke, je wieder aufzustehen, schien absurd. Die Taschenlampe neben ihm war noch an, ein zufälliger Lichtstrahl streifte Max’ nackten Fuß. Es sah aus wie eine kleine Andacht, nachdem eine Tragödie geschehen und vorübergegangen war und jetzt Ruhe einkehrte, die ganze Szenerie im Schein der für Notfälle konstruierten Taschenlampe. Mit der Zeit, so schien es, würden sie verwittern und erst Jahre später von einem Jungen entdeckt werden, der auf der Suche nach einem verlorenen Ball durch eine Zukunftslandschaft rannte, der verrostete Rollstuhl noch intakt, und im Gras ein Schädel, der Spuren aufwies, die darauf hindeuteten, dass er vor langer Zeit geöffnet und in ihn eingebrochen worden war.
    Er schloss die Augen. Geräusche, die am äußersten Rand seines Bewusstseins gewesen waren, das Rascheln einzelner Blätter und das Meeresrauschen eines fernen Autos, traten hervor, lauter kleine Beweise gegen das Nichts. Es war die minutiös sich selbst behauptende Welt, die es Samson unmöglich machte zu glauben, es sei alles nur ein Traum außerhalb der Zeit, wenn er die Augen wieder aufschlüge, läge er neben Anna im Bett, wo er mit einem tiefen Atemzug und plötzlich sich weitenden, luftgefüllten Lungen erwachen würde, um dann den Arm um sie zu legen, ihren Körper an sich zu drücken und Verzeih mir zu sagen.
    Und dann hörte er Töne, die in seinem eigenen Kopf zu sein schienen, bis sie zu laut wurden, um sie zu ignorieren, eine ständig anschwellende Melodie. Es dauerte einen Augenblick, die Worte zu verstehen, aber plötzlich waren sie da. Etwas in seinem tiefsten Inneren erkannte das vertraute Lied:
    « Start spreading the news! I’m leaving today! I’m gonna bea part of it!»
    Es war Max, der eines ihrer alten Lieder sang und damit klar machte, dass er begriffen hatte, wo sie sich befanden, dass sie gekommen waren, um Beth die letzte Ehre zu erweisen, zum Gedenken, aber auch, das implizierte Max’ Gesang, zum Jubilieren.
    «If I can make it there! I’ll make it anywhere!», kreischte er, die Töne herausschmetternd, so gut er es vermochte. Samson rechnete schon halb damit, er würde gleich mit den Armen flattern oder in einem Anfall von silberner Bewegungszeit die Hüften schwingen, aber Max wiegte sich nur sanft, während er mit der Hand in die Luft tappte, als schlüge er eine Zimbel. Er steigerte sich, dem Finale entgegen, bis er es jubelnd erreichte:
    «It’s! Up! To! You! New York! New Yoooork!»
    Aber damit war das Lied nicht zu Ende, denn Max fing wieder von vorne an, unaufhaltsam stieg seine Stimme von tief innen herauf, laut genug, um den Nachbarhund zu wecken, der zu bellen begann, worauf hinter den Fenstern im ersten Stock das Licht anging und die neuen Bewohner ängstlich hinausspähten, so laut, dass Samson fürchtete, Max könnte einen Herzanfall bekommen und die bloße Lautstärke zu seinem Tod führen, während sich seine Lebenskräfte ein letztes Mal aufbäumten.
    Aber dem war nicht so. Die Vorstellung endete ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte, und Max wiegte sich weiter hin und her, während der Hund ununterbrochen bellte, während Samson Freudentränen weinte und eine Polizeisirene nahte.

Vier
    April 2002

W artend stand er an der Ecke. Er war früh da gewesen, und jetzt schaute er auf die Uhr und sah, es war nach zwei. Die Luft war kühl, und er fröstelte in seiner Strickjacke. Es hatte geregnet, der Gehsteig war nass.
    Als er wieder aufblickte, kam sie auf ihn zu, eine kleine Gestalt in hellgrünem Mantel. Seit einem
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