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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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fassen konnte, nur ein fieberhaftes Schuldbewusstsein empfand.
    Er hob Max mit den Armen auf, überrascht, wie leicht er war, als hätte er die hohlen Knochen eines Vogels. Behutsam setzte er ihn in den Rollstuhl und öffnete die Tür. Als er den Gang hinuntereilte, dem schlummernden Max eine letzte Prise Freiheit zu verschaffen, war er schon darauf gefasst, eine Stimme würde «Sammy Greene!» hinter ihnen herrufen. Aber der Aufsichtsdienst hatte gewechselt, und die über ein Buch gebeugte Frau merkte nichts, als das fliehende Paar leise vorbeihuschte.
    Draußen stand der Mond hoch und klar am Himmel. In schlingernder Fahrt ging es die Behindertenrampe hinunter. Und langsam, so langsam, wie sich ein Sonnengewächs dem Licht zuwendet, hob der alte Mann den Kopf. Aus der Stereoanlage des Taxis ertönte Hurrageschrei, tosender Beifall brach über die leere Straße herein.

S ie fuhren weiter durch die Nacht, den wandernden Schein der Straßenbeleuchtung auf den Gesichtern. Der Fahrer hatte keine Fragen gestellt, als Samson den alten Mann auf den Rücksitz lud. Er schien den Ernst der Lage zu begreifen und zog sich nur die Kapuze fester um den Kopf. Max war unbeeindruckt von dem Szenenwechsel, nahm ihn ohne Protest zur Kenntnis. Er starrte aus dem Fenster, als wäre es ein Fernseher; sein Morgenrock fiel offen auf den Sitz.
    Als sie vor Samsons altem Haus hielten, waren die Fenster dunkel. Der Garten schien verwildert. Die Treppenstufen vor dem Eingang, die Samson, mit der behänden Leichtigkeit eines vom Instinkt geleiteten Naturgeschöpfs durchs Leben eilend, unzählige Male rauf und runter gerast war, sackten gefährlich ab. Dennoch gab es Lebenszeichen – ein Auto, das in der Garage stand, ein hingeworfenes Fahrrad auf dem Rasen –, die neuen Bewohner schienen nachlässig, aber lebendig genug, das Gras niederzutrampeln und die Mülltonnen zu füllen. Die Szene hätte banaler nicht sein können. Und doch schwoll ihm das Herz.
    Er lud den Rollstuhl aus. Mit dem Griff kämpfend, öffnete Max selbst die Tür und ließ einen Fuß heraushängen wie ein Fallschirmspringer vor dem Sprung. Samson lief auf die andere Seite, um ihn aufzufangen. Während der Flucht hatte Max einen Pantoffel verloren, und der nackte Fuß schwebte wie eine jämmerliche Frage über dem Asphalt. Samson empfand Schuldgefühle, Max aus seiner vertrauten Umgebung gerissen zu haben. Er hob ihn aus dem Auto und hielt ihn aufrecht, den Boxer a. D. mit dem Vogelskelett. Sachte ließ er ihn in den Stuhl herab, zog den Frotteemantel um ihn und knotete den Gürtel zu.
    Samson war schon im Begriff, den Rollstuhl über die Straße zu schieben, gebannt von der vor ihm liegenden Vision seiner Vergangenheit, als der Fahrer ihn zurückrief, um ihm eine Taschenlampe anzubieten. Der Griff war mit Gummi verkleidet, jene Art Hochleistungstaschenlampe, wie man sie in äußersten Notfällen benutzt, bei Überschwemmungen und Stromausfall, um Licht auf furchtbare Unfälle zu werfen, so schwer, dass man sie auch als Keule gebrauchen kann. Samson knipste sie an. Der Strahl war matt und das Mondlicht allein hell genug, dass man sehen konnte, aber er nahm sie dennoch, weil er ein so unerwartetes Werk der Barmherzigkeit nicht zurückweisen wollte.
    Der Magnolienbaum stand um die Ecke hinter dem Haus. Samson bog mit dem Rollstuhl von dem holprigen Weg ab und schob ihn lautlos durch das Gras. Es kam ihm nicht in den Sinn, an der Tür zu klingeln, wie er der Polizei später auf der grell erleuchteten Wache sagte. Was hätte er sagen sollen, ein übel riechender Vagabund mit einem Neunzigjährigen im bekleckerten Morgenrock? Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung. Keine Sorge, ich tue Ihnen nichts. Glauben Sie mir, wir haben etwas gemeinsam. Ich bin in diesem Haus aufgewachsen. Im Ernst. Vor langer Zeit, ja. Oh, alle möglichen Geschichten! Sie sind zu gütig, wirklich; ein Glas Milch, das wäre wunderbar. Und dürfte ich Sie um einen Spaten bemühen? Oh, nichts, nur meine Mutter, die ich, glaube ich, unter dem Baum dort begraben habe.
    Er bahnte sich seinen Weg an der Seite des Hauses entlang zu der grünen Totenstätte dahinter, schob Max vorsichtig über die Baumwurzeln, die amtlich geprüfte Bergungslampe unter den Arm geklemmt. Aus einem Fenster im ersten Stock fiel das Licht eines Fernsehers auf die Zweige über seinem Kopf. Mann und Frau, wahrscheinlich aneinander geschmiegt im Bett, die Kinder in Sicherheit, mit vom Schlaf geröteten Bäckchen am anderen Ende des
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