Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
nicht entziffern konnte, schraubte er kurzerhand den Deckel ab und steckte die Nase hinein. Ein Schwall Mentholgeruch entströmte. Er runzelte die Stirn. «Oh, das. Das reiben sie mir manchmal auf die Brust, wenn ich Atemnot habe.»
    «Wie wär’s, ich könnte dich jetzt gleich ein bisschen einreiben?»
    «Bloß nicht!» Max schraubte hastig den Deckel wieder zu und versuchte Samson fortzuschieben. «Ich brauche es nicht! Es riecht fürchterlich. Wozu auch? Ich kriege gut Luft. Wick heißt das, glaube ich.»
    «Warum nicht etwas draufmachen, bevor du Atemnot bekommst? Na los, raus aus der Schlafanzugjacke.»
    Max wehrte sich, aber Samson packte ihn bei den Schultern und zog ihm das Oberteil aus. Besiegt, ohne Hemd, schlurfte der Boxer gehorsam zum Bett. Unter dem anregenden Einfluss heilsamer Wick-Dämpfe würde Max vielleicht den Namen des Friedhofs herausbringen. Samson fuhr mit dem Finger in die Salbe und schmierte einen Klumpen auf die ledrige Brust seines Großonkels. Max ließ die plötzliche Intimität ungerührt über sich ergehen. Entweder war er es gewöhnt, von Fremden angefasst zu werden, oder er war zu keiner Verwunderung mehr fähig. Seine Augen wurden glasig, während Samson die schrumpelige Haut des einst kräftigen und immer noch sehnigen Oberkörpers massierte.
    «Wie fühlt sich das an?»
    «Gut. Bestens. Es war nicht nötig, aber es ist gut so.»
    «Ich muss dich was fragen, Onkel Max. Kannst du mir etwas sagen, tust du das für mich?»
    «Sicher. Also, ich will es versuchen.»
    «Erinnerst du dich an Beth?»
    «Sicher. Süße Kleine. Lernte Steptanzen …»
    «Sie ist tot, Max!», explodierte Samson. «Sie ist erwachsen geworden, sie hat aufgehört zu tanzen, und dann ist sie gestorben!»
    Max versteifte sich, und sofort schalt Samson sich dafür, die Geduld verloren zu haben. Erschöpfung, der Druck des wartenden Taxis und die Traurigkeit, von Max nicht erkannt worden zu sein, hatten ihn nervös gemacht. Um Fassung ringend, rieb er seinem Großonkel das Wick in die Schultern, knetete die schlaffen Muskeln. Durch die Fingerspitzen spürte er die leichte Hitze auf der Haut.
    «Es gibt so viel, was ich dir gern erzählen würde, wenn ich nur Zeit hätte und du verstehen könntest», begann er. Das einzige Zeichen dafür, dass Max ihn überhaupt hörte, war eine leichte Entspannung der Schultern. «Du würdest nicht glauben, was mir alles passiert ist. Ich bin so müde, ich könnte tagelang schlafen. Ich will mich nicht selbst bemitleiden – das tue ich wirklich nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass ich eines Tages über all das lache. Dass ich irgendwo in einem Haus weit weg von allem in einem Zimmer sitze, einfach so, am Fenster, draußen die Blätter betrachte und plötzlich anfange zu lachen. Weil mir dann alles so lange her zu sein scheinen wird, in einer anderen Lebenszeit, als wäre es jemand anderem passiert.»
    Er gab sich jetzt ganz seinem Monolog hin, beruhigt, wenn nicht verstanden, so doch wenigstens gehört zu werden, als spräche er über Radio, ohne zu wissen, ob seine Stimme irgend jemanden erreichte, aber in der Gewissheit, dass sie zumindest da draußen durch den Äther ging.
    «Ich meine, wie oft kann man im Zeitraum eines Lebens schon jemand anders werden? Ein Leben ist doch nicht sehr lang, oder, Max? Du bist ein Kind, es ist Sommer, du zwinkerst einmal, und auf einmal sind Jahre – Jahre – vergangen. Und dann merkst du, du bist ein anderer geworden, aber dein Herz ist immer noch in dem verlorenen Kind gefangen. Was da in deiner Brust schlägt, ist nur eine Winzigkeit, ein Schatten dessen, was es war, als du es damals, unter dem Abendhimmel rennend, zum Bersten gefüllt empfunden hast.»
    Samson seufzte und ließ die Hände auf den Schoß sinken. Max saß mit gebeugtem Kopf da, wie ins Gebet vertieft.
    «Du hast Glück, Max, dass du dich an deine Frau erinnerst. Vielleicht sogar an meine. Sie heißt Anna, eine sehr schöne Frau. Immer wenn ich jetzt an sie denke, bin ich hingerissen von ihrer Schönheit. Sie ist die Sorte Frau, bei der man – wie soll ich das erklären? – nie weiß, was sie denkt. Vielleicht wusste auch nur ich es nie.» Er fragte sich, ob Max die Verzweiflung in seiner Stimme hörte. Schnell kam er zur Sache. «Aber ich sollte nicht so daherreden, tut mir Leid. Schau, ich möchte nur wissen, wo meine Mutter begraben ist.»
    Max schwieg, und Samson hob die Hände vors Gesicht und drückte sie gegen die Augenlider, ohne noch an das Wick zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher