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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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nur Hershey’s und den Rest, Amerika und den Rest. Das Angebot hatte etwas so Bedürftiges, dass es grausam schien, es nicht anzunehmen.
    Samson willigte ein, packte die Griffe von Max’ Rollstuhl und drehte ihn zur Tür. Max drehte sich steif mit, seine Miene trübte sich. «Pssst! Red leise», zischte er, obwohl Samson nicht laut gesprochen hatte. «Ich will keinen Ärger.»
    Der Max, an den Samson sich erinnerte, hatte Autoritäten abgelehnt und sie, wo er nur konnte, zum Gespött gemacht. Einmal musste er nach einem kleinen Verkehrsdelikt gegen Kaution aus dem Gefängnis geholt werden, weil er dem Polizisten, der ihn an die Seite gewinkt hatte, den ganzen Inhalt seiner Geldbörse wie in einer Marx-Brothers-Szene einzeln hingehalten hatte – abgerissene Kinokarten und Visitenkarten, seinen Bibliotheksausweis, alles, nur nicht den Führerschein. Später hatte Max sich einen Spaß daraus gemacht, anderen die Szene vorzuspielen, und jedes Mal brüllend gelacht. Jetzt schien es Samson, als wäre diese Lust, Autoritätspersonen ins Lächerliche zu ziehen, vielleicht Max’ eigene verdeckte Form des Protests gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals gewesen, gegen die Nazis, die ihm seine Familie genommen und alle Spuren seines früheren Lebens zerstört hatten. Samson empfand plötzliches Mitgefühl für Max, die einzigartige, traurige Schönheit der Blutsverwandtschaft. Er drückte seinem Großonkel die Schulter, während er ihn den Flur entlangschob, knetete sie durch den Stoff, als wäre Max ein geschlagener Boxer, der sich zum letzten Auftritt in den Ring begab.
    Auf dem Weg zu seinem Zimmer kamen sie an einem verglasten Raum vorbei, wo zehn oder zwölf Heimbewohner vor einem Haufen weggeräumter Stühle standen. Ihnen gegenüber regte eine pummelige, lebhafte Frau um die sechzig in gelbem Trikot und Strumpfhosen zum Mitmachen an. «Es ist silberne Bewegungszeit! Silberne Bewegungszeit», sang sie munter, und in ersticktem Chor fielen die Alten ein wie krächzende Hähne in das Trällern eines dicken Kanarienvogels. «Es ist silberne Bewegungszeit! Silberne Bewegungszeit!» Draußen im Flur hellte sich die Miene des geschlagenen Boxers auf, seine Hände klatschten mit.
    «Das ist Ruth Westerman», verkündete er und stimmte einen kräftigen, immer noch melodischen Tenor an.
    «Jetzt nicken die Köpfe, rauf und runter, ja, ja, ja», sang Ruth, und die ganze abgewrackte Truppe nickte mit den Köpfen, ja, ja, ja. «Gut gemacht! Und jetzt schütteln sie sich, hin und her, nein, nein, nein», und wie Lemminge folgten sie ihr, nein, nein, nein. Auch der Champion schüttelte den Kopf: Keine Hershey’s! Keinen Ärger! Keine Ahnung, wer du bist! «Was bewegen wir noch?», sang Ruth, und ein Schwall von Vorschlägen kam zurück, erst verhalten – «Die Augenbrauen!», «Die Finger!» –, dann immer kecker – «Die Arme!», «Die Beine!» –, bis zu dem dröhnenden Befehl «DAS BECKEN!» Ruth Westerman wandte sich zum Eingang, von wo der Ruf gekommen war. Max klatschte weiter. «Das Becken!», wiederholte er. Sie brauchte einen Augenblick, um die Anregung zu verdauen. «Das Becken!», rief sie schließlich, aufreizend die Hüften schwenkend. Nach einer kurzen Irritation über die neue Choreographie machten auch die Senioren mit, schaukelten und wiegten sich bereitwillig.
    Samson kam in den Sinn, dass die gerade ihren Unterleib verdrehende Ruth Westerman («Es geht rund! Rund! Rund!») ungefähr im gleichen Alter sein musste wie seine Mutter, wenn sie noch am Leben wäre. Dass Ruth Westerman hier mit lauter Greisen eine anzügliche Tanzscharade anführte, während seine Mutter für alle Ewigkeit still in einer Kiste lag, war zu viel des Guten. Er wollte nur noch zu ihr, ihr die letzte Ehre erweisen, seinen müden Kopf auf ihr Fleckchen Erde legen. Dann war alles egal. Dann konnte Ruth Westerman mit einem ganzen silbernen Bewegungsheer über sie hinwegmarschieren. Sollte sie doch! Er riss Max’ Rollstuhl herum und schnitt den stellvertretenden Kommandeur dieses Heeres, der sich, den Gang hinunterrollend, glücklich weiter auf den Schenkel klopfte, jäh von seiner Truppe ab.
    Max’ Zimmer war klein und beengt. Sogar mit seinen persönlichen Sachen darin sah es aus wie im Krankenhaus, wie die unselig eingerichteten Zimmer jener Todkranken, die es aufgegeben haben, draußen Miete zu bezahlen. An der Wand hingen vier gerahmte Ansichten der italienischen Stadt aus der Vogelperspektive. Die schmalen, kreuzschraffierten
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