Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
Straßen und die winzigen Kirchen, alles war mit der zärtlichen, obsessiven Leidenschaft eines gekränkten Liebhabers gemalt. Das seltsamste und eindringlichste Bild zeigte die italienische Stadt aus Max’ Jugend nach innen gewölbt um den Globus geschlungen, als wäre nur sie auf der Welt zurückgeblieben, als dehnte und spannte sich ihre Geometrie rund um die Erde.
    Neben den Zeichnungen gab es hauptsächlich Bücher. Eine Reihe von etwa zehn Bänden großformatiger, in schwarzes Leder gebundener Bücher stach Samson ins Auge. Es sah so aus, als würde es Max schwer fallen, sie aus dem Regal zu ziehen. Ihre deutschen Titel, ihr mächtiges Volumen und das einheitliche Schwarz ließen es Samson nicht unmöglich erscheinen, dass sie die Weisheit eines ganzen Lebens enthielten, dass vielleicht jede Einzelheit aus Max’ Gehirn akribisch in winziger Schrift darin festgehalten war, was es ihm erlaubte, die ewigen Jagdgründe des Vergessens zu durchstreifen.
    Das Zimmer lag nach vorn hinaus, oberhalb der Rasenfläche, die sich vor dem Haus erstreckte. Aus dem Fenster sah Samson seinen Fahrer heftig zur Musik wippen. Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis der Mann die Schnauze voll hätte und ohne ihn davonführe.
    «Magst du jetzt die Schokolade, Max?»
    «Hast du Schokolade?»
    «Ich dachte, du hättest welche .»
    «Woher wusstest du das?» Max schien ehrlich überrascht. «Ganz zufällig habe ich welche. Nur wo ich sie hingetan habe, weiß ich nicht. Hier muss man alles verstecken. Lässt man was offen herumliegen, ziehen sie es ein. Und weg ist es.» Er schlug wütend in die Luft. «Irgendjemand, keine Ahnung, wer, hat mir mal Plätzchen geschickt. Wie sagt man noch, frisch gebacken. Sie gaben mir ein paar, und den Rest nahmen sie mit. Wegen meines hohen Blutdrucks. Drecksäcke.»
    Die Bemerkung fiel in einem Ton, der Samson überraschte, ganz der Onkel Max, an den er sich erinnerte, der ironische und streitbare Mann, der sich den kleinlichen Befehlen der Verkehrspolizei nicht beugen wollte. Dass er hier enden sollte, wie ein Spürhund nach ein paar Krümeln illegaler Schokolade suchend, schien eine elende und grausame Erniedrigung. Samson entfuhr ein scharfer Seufzer. Max wandte sich ihm zu, die Augen klar und konzentriert, und einen Augenblick schien er seinen Großneffen tatsächlich wahrzunehmen. Dann löste sich der Moment in Wohlgefallen auf, und sein Gesicht fiel in trübe Gebrechlichkeit zurück. «Drecksäcke», sagte er noch einmal, als wiederholte er etwas, was er jemand anderen sagen gehört hatte.
    Max wollte den Morgenrock ausziehen, also half Samson ihm auf die Beine und befreite ihn davon. Er war voller verkrusteter Flecken wie das verfilzte Fell eines verwilderten Haustieres. Darunter trug Max einen zerknitterten Schlafanzug, der nur bis zu den Schienbeinen reichte.
    «Also gut.» Max rieb sich die Hände. «Los geht’s!»
    Und los ging es. Samson tastete sich mühsam von Regal zu Regal, wie ein Kind auf der Suche nach dem Afikomen – Warm, warm, wärmer! –, während Max ihn aus dem Rollstuhl dirigierte: «Mach den kleinen Kasten auf. Das ist eine Spieluhr. Kennst du das Lied? Es ist ein Walzer. Ich weiß nicht, wo ich das herhabe. Aus Bayern vielleicht. Ist da Schokolade drin? Nein? Na gut, dann schau hinter dem Buch.» Wärmer, wärmer, KALT! Nicht hinter dem! Hinter dem dicken, weiter links. Guck nach, ob ich die Schokolade da versteckt habe. Nein? Na schön. Und was ist mit dem Tisch? Vielleicht liegt sie da.»
    Samson durchkämmte das Durcheinander aus leeren Brillenetuis, kappenlosen Stiften, alten Scheckheften und einzeln herumfliegenden Ohrringen, wie ein Taucher den Grund einer überschwemmten Stadt absucht. Dies war der ganze Schrott, der am Ende eines Lebens blieb. Er rechnete nicht ernsthaft damit, die Schokolade zu finden. Vermutlich hatte es sie nie gegeben, und wenn doch, dann wahrscheinlich vor Jahrzehnten, ein lange verschollener Schokoriegel, der in Max’ Vorstellung das Eldorado der Süßigkeiten geworden war.
    «Nein, nein, nein. Weiter», befahl Max, während Samson eine Schublade nach der anderen aufzog und durchsuchte.
    Samson schloss das letzte Fach. Der Himmel wurde langsam dunkel. Die Aussicht, Max bald verlassen zu müssen, betrübte ihn, und einen Moment lang vergaß er, warum er gekommen war. Er nahm ein Glas Salbe vom Tisch und hielt es hoch.
    «Was ist das?»
    «Das? Zeig her.» Max hielt es sich nahe vors Gesicht, und als er das Schild trotzdem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher