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Kommissar Morry - Ich habe Angst

Kommissar Morry - Ich habe Angst

Titel: Kommissar Morry - Ich habe Angst
Autoren: Hans E. Koedelpeter
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nicht gleich darauf gekommen? Sein Weg endete hier. Es war das einzig richtige für ihn. Hier gab es keinen Lärm. Kein speiendes Ungeheuer von einer Lokomotive, kein dröhnendes Räderrollen, keine panische Aufregung. Hier würde alles ganz still verlaufen. Henry Boswell stand da und blickte zu den Drähten empor, in denen leise der Nachtwind sang. Man brauchte nur einen Draht berühren. Dann war es aus. Soviel wußte er. Es würde unheimlich schnell gehen. Er trat ganz dicht an den Mast heran und hängte sich in die Streben. Langsam zog er sich empor. Das scharfe Metall schnitt in seine Hände. Er spürte es nicht. Er kletterte unaufhörlich weiter. Er wollte möglichst rasch zum Ziel kommen.
    Auf halber Höhe hielt er an und blickte nach unten. In der Tiefe lagen braune Äcker und dampfende Wiesen. Das alles sah sehr friedlich aus. Henry Boswell stieg weiter nach oben. Das Singen in den Drähten wurde lauter. Ein seltsames Prickeln war in seinen Händen. Seine Zähne schlugen leise aufeinander. Und dann sah er die Drähte plötzlich ganz nah vor sich. Der Tod lief direkt an seinen Augen vorüber. Das Singen wurde laut wie dröhnende Orgelmusik. Es wird nur den Bruchteil einer Sekunde dauern, tröstete sich Henry Boswell. Diesmal werde ich nicht schlappmachen. Ich muß jetzt handeln, noch in dieser Sekunde, ehe das Hirn wieder anfängt zu denken.
    Er hob zaudernd die Hand. Er war noch immer nicht fest entschlossen. Aber nun ließ ihm der Tod keine Wahl mehr. Die Drähte zogen ihn an wie ein starker Magnet. Die Hand schlug an den nächsten Draht und klebte dort fest. Ein schriller Todesschrei brach von den Lippen Henry Boswells. Alle Todesangst, alle Verzweiflung lagen in diesem einzigen Schrei. Noch in der gleichen Sekunde verstummte die gellende Stimme. Henry Boswell spürte, wie eine glühende Flamme in sein Hirn fuhr und alles in ihm zerstörte. Der rasende Schmerz währte nur eine Zehntelsekunde, aber für Henry Boswell dauerte er doch endlos lang. Dann verloren seine baumelnden Füße den Halt und glitten von den Gitterstreben des Mastes ab. Diesmal war die törichte Tat gelungen. Es gab für Henry Boswell keine Gelegenheit mehr, seinen verzweifelten Entschluß zu bereuen.

    2

    Jack Havard war es gewöhnt, pünktlich um sieben Uhr morgens aufzustehen, weil er zu jener Sorte von Menschen gehörte, die den Tagesablauf in aller Ruhe beginnen wollen. Er hatte eine volle Stunde Zeit, bis sein Dienst im Büro begann. Er nahm gemächlich seinen Morgenkaffee ein, las die Zeitung und rauchte eine Zigarette dazu.
    Als er auf der letzten Seite angekommen war, streifte er auch noch die Anzeigen mit einem flüchtigen Blick. Die fettgedruckte Offerte eines Reisebüros sprang ihm in die Augen.
    „Am schönsten ist der Herbst in Sizilien", las er schmunzelnd. „Vierzehn Tage einschließlich Fahrt und Vollpension nur 32 Pfund. Wir erwarten Ihren Besuch."
    Jack Havard faltete die Zeitung zusammen und räumte den Frühstückstisch ab.
    „Ich habe noch drei Wochen Urlaub gut", sagte Jack Havard still bei sich. „Warum sollte man nicht einmal nach dem Süden fahren? Meinem Konto bei der Zentral Bank würde es kaum etwas ausmachen. Ich habe genug Geld dort."
    In diese frohen Gedanken gellte plötzlich das Läuten der Flurglocke. Laut hallte das schrille Lärmen durch die offene Tür.
    „Nanu?" stutzte Jack Havard. „Schon so früher Besuch? Das ist bisher verdammt selten vorgekommen."
    Er band sich noch den Schlips um und ging dann rasch hinaus, um die Tür zu öffnen. Interessiert blickte er auf den gutgekleideten Herrn, der lässig vor ihm stand und höflich den Hut lüftete. Sein Gesicht wirkte straff und jugendlich; die klugen Augen blickten zuversichtlich in den Herbstmorgen.
    „Kommissar Morry", stellte er sich vor. „Sonderdezernat, Scotland Yard."
    Jack Havard trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Obwohl er durchaus kein schlechtes Gewissen hatte, verwirrte ihn der Besuch eines Detektivs in aller Herrgottsfrühe.
    „Morry?" murmelte er betroffen. „Moment mal! Den Namen kenne ich doch. Ich habe ihn schon öfter in der Zeitung gelesen."
    „Mag sein", lächelte der Kommissar bescheiden. „Ich habe im vergangenen Sommer einen schwierigen Fall gelöst. Die Presse machte viel Aufhebens davon."
    Jack Havard blickte auf seine Uhr. Dann zuckte er etwas ratlos mit den Achseln.
    „Ich habe im Moment leider nicht viel Zeit", sagte er. „In zehn Minuten beginnt mein Dienst. Wenn Sie mir bitte sagen würden, was Sie
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