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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester!
Autoren: Lois Duncan
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konzentrierte mich. Und wie ein Pfeil vom gespannten Bogen schoss ich davon.
    Es ging alles so schnell, dass ich nicht überblicken konnte, was passierte. Ich musste nicht irgendwie eintreten, ich war einfach da. Der Ort war ein Krankenhaus, aber nicht so eines wie das, in dem Helen gewesen war. Zuerst konnte ich nicht genau feststellen, was die Unterschiede waren. Weiße Wände und sterile Atmosphäre hier wie dort, auf dem makellos gebohnerten Linoleum der Fußböden spiegelte sich das Neonlicht der Deckenbeleuchtung. Schwestern und Pfleger bewegten sich zielstrebig durch die Flure, sie trugen Krankenblätter und Spritzen und schoben Wagen mit Tabletts voller Medikamente.
    Aber hier gab es keine Blumen und das war seltsam. Der Empfangstresen im Duke Hospital war mit Blumen überladen gewesen, Körbe voller Blüten, Vasen mit Schnittblumensträußen und Topfblumen hatten dort mit Karten der Absender versehen für die Patienten bereitgestanden.
    Hier gab es so was nicht. Der Tresen war kahl. Und die Türen zu den Zimmern der Patienten waren geschlossen.
    Langsam bewegte ich mich den Flur entlang. Schwestern gingen an mir vorbei oder mitten durch mich hindurch, ohne mich zu bemerken. Das erschreckte mich nicht mehr, ich erwartete nichts anderes. Die Türen waren seltsam, der obere Teil bestand nämlich aus Glas. Ich konnte die Patienten in den dahinterliegenden Räumen sehen, wie sie standen, saßen, aus dem Fenster schauten, die Wände anstarrten oder rastlos herumliefen. Niemand schien hier ernstlich krank zu sein.
    Sie ist krank, sie darf keinen Besuch haben …
    Mr Abbotts Worte fielen mir wieder ein, und es fiel mir schwer, ihren Sinn zu verstehen. Die Leute auf dieser Station wirkten nicht krank genug, dass so eine Einschränkung gerechtfertigt gewesen wäre. Und doch hatte er recht. Hier waren keine Besucher, obwohl zu dieser Tageszeit eigentlich welche da sein müssten.
    Ich ging an einer Tür nach der anderen vorüber, bis ich zu der kam, die ich suchte. Ich musste nicht erst durch das Glasfenster schauen, um zu wissen, wessen Zimmer das war. Es kam mir vor, als würde mich eine Stimme rufen.
    Ich glitt durch die Tür und bewegte mich durch den Raum zum Bett, dort schaute ich verwundert auf die vertraute Gestalt hinab.
    Sie war wie ein Duplikat meiner selbst.
    Sie schlief so fest, dass ich es kaum für möglich hielt, dass sie lebendig war. Ihre Brust schien sich nicht zu bewegen und weder Lider noch Nasenflügel zuckten. Ich beugte mich tiefer über sie, damit ich mir ihr Gesicht genauer ansehen konnte. Die markanten Wangenknochen, der Olivton der glatten Haut, die dicken Wimpern … das hätte ebenso gut ich sein können.
    Und doch gab es Unterschiede.
    Das Mädchen hatte Ohrlöcher, ich nicht. Mom und ich hatten ein paar Runden zu diesem Thema ausgetragen und sie hatte gewonnen. »Es gibt genug natürliche Löcher in der Anatomie des Menschen«, hatte sie im Brustton der Überzeugung gesagt, »es ist ein Sakrileg, weitere zu machen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.« Ich war da ganz anderer Ansicht, aber die Sache war mir einen totalen Krieg nicht wert gewesen. Wenn ich erst im College war, könnte ich mir ohne Schwierigkeiten welche stechen lassen.
    Am Kinn hatte sie eine kleine Narbe, die vielleicht nur davon herrührte, dass sie einen Mückenstich aufgekratzt hatte, aber es war eine Narbe, die ich nicht hatte.
    Am Hals hatte sie ein Muttermal, ich nicht.
    Ich setzte meine Inspektion fort. Das Mädchen lag mit angezogenen Knien auf der Seite. Mit einer Hand hielt sie den Rand der Wolldecke umklammert, die über sie gebreitet war. Ihre Fingernägel waren perfekt, ich hätte neidisch werden können. Meine sahen immer ziemlich mitgenommen aus, zwar nicht total abgenagt, aber etwas angenagt durchaus.
    Kleinigkeiten. Unwichtig. Kaum wahrnehmbar – und doch machte das den Unterschied zwischen Lia Abbott und Laurie Stratton aus.
    Dieser Körper war nicht meiner und das Mädchen darin war jemand anders. Genetisch mochten wir vielleicht gleich sein, aber sie hatte ein anderes Leben gelebt und ihre eigenen Spuren auf dem Körper hinterlassen.
    Â»Lia?« Ich sprach den Namen aus, aber kein Ton kam heraus.
    Ob sie mich hören konnte? Ich hatte sie gehört, als ich geschlafen hatte. Ihre Stimme hatte sich mit meinen Träumen verbunden, und als sie stärker geworden war, hatte sie bis in
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