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Komm, suesser Tod

Komm, suesser Tod

Titel: Komm, suesser Tod
Autoren: Wolf Haas
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bis zum Hals hinauf angeschissen."
    "Mahlzeit", hat der Schimpl sich wieder gemeldet. "Wo ist er denn?"
    "Ja, darum wundere ich mich ja."
    Und dann hat der Bahnhofsvorstand den Brenner ein bißchen verlegen angeschaut. Der Eisenbahner mit dem Pferdegesicht ist jetzt auf einmal wirklich so wortkarg wie ein französischer Film geworden.
    "Was heißt wundern?" hat der Schimpl wissen wollen.
    "Ich wundere mich, was ihr hier noch macht. Der Rettungsbund hat ihn ja schon vor fünf Minuten mitgenommen."
    "Was heißt der Rettungsbund?"
    "Der Rettungsbund eben."
    "Ja, haben Sie denn bei denen auch angerufen?"
    "Eben nicht."
    "Was heißt eben nicht?"
    Siehst du, darum sage ich immer: Dolmetscher oder vielleicht Professor, das wären Berufe für den Schimpl gewesen. Aber für einen Rettungsfahrer war er einfach zu nervös.
    Besonders jetzt. Wie der alte Eisenbahner noch sagt: "Ich hab mich auch schon gewundert, daß die kommen. Und noch dazu fünf Minuten vor euch."
    Und ich muß ganz ehrlich sagen, ein bißchen nervös ist der Brenner jetzt auch geworden. Weil du darfst eines nicht vergessen. Es gibt für einen Kreuzretter nichts Schlimmeres, als wenn du dir vom Rettungsbund die Fuhre vor der Nase wegklauen läßt.
     

3
    Bei Dienstschluß hat der Brenner den Vorfall am Franz-Josefs-Bahnhof schon komplett vergessen gehabt. Er hat ja nicht wissen können, wie oft er in den nächsten Tagen noch an den geklauten Sandler denken wird. Aber vielleicht ist es schon ein bißchen eine Vorahnung gewesen, daß er an diesem Abend so grantig in seiner Wohnung gesessen ist.
    Bis neun hat er ferngesehen, und dann ist er ein bißchen ins Studieren gekommen. Ich möchte nicht sagen: melancholisch, nur ein bißchen ding. Wo schon seine Großmutter früher immer ganz streng zu ihm gesagt hat: "Es heißt: Du sollst nicht grübeln!"
    Wie er jetzt in seiner Wohnung gesessen ist, hätte er auch jemanden gebraucht, der ihn aufscheucht und daran erinnert: "Du sollst nicht grübeln!"
    Für echtes Grübeln ist es allerdings typisch, daß es gar nichts Konkretes gibt, über das man grübelt. Quasi grübeln um des Grübelns willen. Und heute abend hat der Brenner immerhin darüber gegrübelt, ob er jetzt noch auf ein Bier in das Kellerstüberl hinuntergehen soll oder nicht.
    Aber natürlich, wenn man drei Stunden über so ein Problem nachgrübelt, ist es fast schon wieder echtes Grübeln. Er hat von seiner Wohnung aus gesehen, daß Licht in der Kellerbar unter dem Bereitschaftsraum war. Jeden Abend sind da unten Pokerrunden gewesen, und da haben seine Kollegen oft um Einsätze gespielt, frage nicht. Denen ist das Risikomäßige vom Einsatzfahren so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie es auch nach der Arbeit noch gebraucht haben.
    Aber statt daß er hinuntergegangen wäre, hat er darüber nachgegrübelt, wie er zum erstenmal in seinem Leben eine Kellerbar gesehen hat.
    Weil du darfst eines nicht vergessen. Wie der Brenner ein kleines Kind war, ist der Krieg noch nicht so lange her gewesen.
    Da sind die Leute noch froh gewesen, wenn sie ein Dach über dem Kopf gehabt haben. Und dann sind die Jahre gekommen, wo alle eine neue Heizung gebaut haben. Und dann sind die Jahre gekommen, wo alle ein neues Bad installiert haben. Und dann sind die Jahre gekommen, wo alle neue Möbel gekriegt haben. Und dann sind die Jahre gekommen, wo alle eine neue Küche eingebaut haben. Und dann sind die Jahre gekommen, wo alle alles gehabt haben.
    Und dann ist das Jahr gekommen, ich erinnere mich noch genau, 1968, wie die olympischen Winterspiele in Grenoble gewesen sind: Wo sich alle ein Kellerstüberl gebaut haben.
    Der Brenner hat damals in den Ferien seinem Großvater ein bißchen in der Schreinerwerkstatt geholfen. Und sie haben in diesen Ferien bestimmt zehn Kellerstüberl-Plafonds mit Holzdecken verkleiden müssen. Irgendwie hat jedes Kellerstüberl seine Eigenheit gehabt, und irgendwie ist jedes Kellerstüberl gleich gewesen. Eine weiche Sitzecke. Ein schwarzer Couchtisch. Eine herausklappbare Bar mit Innenbeleuchtung, voll mit billigen Whiskys und Cognacs. Eine leuchtende venezianische Gondel. Ein Plattenspieler mit drei Elvis-Platten, oder meinetwegen "Take the A-Train". Und eine holzverkleidete Decke mit indirekter Beleuchtung.
    Und natürlich der Brenner damals in einem gewissen Alter.
    Weil im Winter 1968 ist der Brenner, warte: gut siebzehn Jahre alt gewesen. Ich möchte nur soviel sagen: Er hat in diesen Sommerferien nicht nur Holzdecken genagelt in den
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