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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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durch die Menge. Er hatte nur eine Chance, nur einen Schuss. Das Benzin wurde angezündet. Der Sohn fing an zu brennen, schreiend wand er sich hin und her. Leo kniff ein Auge zu und wartete auf eine Lücke in der Menge. Dann schoss er. Die Kugel traf den jungen Mann in den Kopf. Er brannte noch, doch sein Körper hing jetzt schlaff herunter. Die Aufständischen wirbelten herum und starrten Leo an.
    Frajera hatte bereits ihre Waffe auf ihn gerichtet. »Runter damit!«
    Leo ließ das Gewehr fallen.
    Karoly stand auf und umklammerte den Leichnam seines Sohnes. Er versuchte die Flammen zu ersticken, so als könne ihn das noch retten. Auch er selbst brannte mittlerweile, die Haut an seinen Händen wurde krebsrot und warf Blasen. Aber Karoly schien es längst nicht mehr wahrzunehmen, er hielt weiter seinen Sohn umklammert, während seine Kleider Feuer fingen. Die Kämpfer sahen zu, wie der Mann trauerte und brannte, und ihr rasender Hass verschwand.
    Leo wollte schreien, dass sie halfen, dass sie irgendetwas unternahmen. Schließlich hob ein Mann mittleren Alters seine Waffe und schoss Karoly in den Hinterkopf. Unter seinem Sohn fiel er ins Feuer. Noch während sie zusammen verbrannten, machten sich viele aus der Menge davon.

    Am selben Tag

    Sie waren wieder in der Wohnung. Zwischen den verkaterten wory und den ausgelassenen ungarischen Studenten versuchte Malysch ein ruhiges Plätzchen zu finden. Er zog sich in die Küche zurück und machte unter dem Tisch ein Lager. Dann ergriff er Sojas Hände. Wie jemand, den man aus dem eiskalten Meer gerettet hatte, konnte sie einfach nicht aufhören zu zittern. Als Frajera die Küche betrat, spürte Malysch, wie Soja erstarrte, so als sei ein Raubtier in der Nähe. In einer Hand hielt Frajera ihre Waffe, in der anderen eine Flasche Champagner. Sie hockte sich hin. Ihre Augen waren blutunterlaufen, die Lippen aufgesprungen.
    »Auf einem der Plätze gibt es heute Abend ein Fest. Da kommen Tausende von Leuten. Die Bauern aus der Umgebung stiften das Essen. Ganze Schweine werden gebraten.«
    »Soja geht es nicht gut«, antwortete Malysch.
    Frajera streckte die Hand aus und befühlte Sojas Stirn. »Da gibt es keine Polizei, keinen Staat, nur die Bürger eines freien Landes, und keiner muss mehr Angst haben. Wir müssen dabei sein, und zwar alle.«
    Sobald Frajera den Raum verlassen hatte, fing Soja, die sich während der Unterredung zusammengerissen hatte, wieder an zu zittern. In den auf den Straßen liegenden Soldatenleichen, über die man Kalk geschüttet hatte, sah man statt dem Menschen nur noch die Uniform, das Symbol der Besatzer. Jeder, ob tot oder lebendig, war für irgendetwas ein Symbol. Die toten Ungarn, auf deren Gräber man Blumen gelegt hatte, waren die Symbole des gerechten Widerstandes. Karoly jedoch war vor allen Dingen ein Vater gewesen, und der Beamte, den man aufgehängt hatte, sein Sohn.
    »Heute Nacht laufen wir weg«, flüsterte Malysch Soja zu.
    »Ich weiß noch nicht, wohin. Aber wir schlagen uns schon durch. Im Durchschlagen bin ich gut. Es ist das Einzige, was ich gut kann, außer vielleicht töten.«
    Soja dachte einen Moment lang nach, dann fragte sie: »Und Frajera?«
    »Wir dürfen es ihr nicht sagen. Wir warten, bis alle beim Fest sind, dann hauen wir ab. Was hältst du davon? Kommst du mit?«

    * * *

    Im Halbschlaf dämmerte Soja vor sich hin. In ihren Träumen stellte sie sich vor, wo sie leben würden. Irgendwo weit weg, auf einem abgelegenen Bauernhof mitten im Wald, in einem freien Land. Viel Land würden sie nicht besitzen, gerade genug, um sich davon zu ernähren. Es gab auch einen Fluss, nicht zu breit, nicht zu schnell und nicht zu tief. Darin schwammen sie, oder sie angelten. Soja öffnete die Augen. Die Wohnung lag im Dunkeln. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, und sah Malysch an. Er legte einen Finger an die Lippen. Sie bemerkte, dass er ein Bündel geschnürt hatte, in dem vermutlich Kleidung, Verpflegung und Geld waren. Offenbar hatte er, während sie schlief, alles vorbereitet. Sie verließen die Küche, im größten Zimmer nebenan trafen sie auf niemanden. Alle waren beim Fest. Sie eilten aus der Wohnung, die Treppe hinunter und auf den Hof. Da blieb Soja stehen. Leo und Raisa fielen ihr ein, die in der Wohnung unter dem Dach eingeschlossen waren.
    Aus dem dunklen Flur hörte man eine Stimme. »Sie werden bestimmt gerührt sein, wenn ich ihnen erzähle, dass du noch einmal gezögert und an sie gedacht hast, bevor du
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