Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri
Autoren: Jürgen Benvenuti
Vom Netzwerk:
jetzt erschießen.“
    Ich hab alles drauf, sagte sich Maria wieder und immer wieder, ich hab alles drauf, auf mein kleines Baby kann ich mich verlassen, gute Digicam, du bist du beste, alles hast du aufgenommen. Sie hatte jedenGedanken, der ihr in den Sekunden nach der Detonation durch den Kopf geschossen war – hat Karl gelogen?, gibt es tatsächlich eine Bombe?, falls nein, was, zur Hölle, hat dieses dumpfe Grollen unter meinen Füßen verursacht? –, all diese Gedanken hatte sie sofort aus ihrem Kopf verbannt. Sie hatte nur noch eines getan, sie hatte ihre Kamera umklammert wie eine Mutter ihr Neugeborenes und hatte alles, wirklich alles, auf Film respektive DV-Tape festgehalten. Karl und dieser WEGA-Typ, die miteinander kämpften, der Bürgermeister, die seltsam gekleidete Frau und der Mann im konservativen Anzug, die aufgeregt durch die Gegend rannten und sinnloses Zeug riefen, sie hatte jede Bewegung von Fritz festgehalten, der einen kurzen Blick auf das Szenario geworfen und offensichtlich sofort erkannt hatte, was hier nicht stimmte. Hatte ihn durch den Sucher beobachtet, wie er zu Kalina gegangen war und auf ihn eingeredet hatte, wie Kalina schließlich in sein Kehlkopfmikrophon gesprochen hatte und wie die WEGA-Beamten plötzlich alle zurück zur Tür gerannt waren. Alles hatte sie aufgenommen.
    Sie kauerte hinter einem Gabelstapler, die Kamera auf die schwelende Tränengasgranate gerichtet, als sie plötzlich von hinten gepackt und hochgehoben wurde. Ein schwarzbestoffter Arm legte sich um ihre Taille, zwei Hände in schwarzen Lederhandschuhen nahmen ihre nackten Füße, und wie ein seltsamer, dreigliedriger Krebs marschierten die beiden WEGA-Beamten, Maria in ihrer Mitte, zur Tür, und auf halbem Weg dorthin löste sich der Verschluss ihrer Halskette, die Drechsler ihr geschenkt hatte, und fiel zu Boden.
    Irgendwann zog Karl die Arme von seinem Kopf weg, richtete sich ein wenig auf und schaute sich, so gut das in der tränengasgeschwängerten Luft ging, um. Außer dunklen Silhouetten, die gespenstergleich an ihm vorbeiglitten, nahm er wenig wahr, zu sehr schmerzten seine malträtierten Augen, zu stark kratzte sein Hals, zu heftig brannte seine Lunge.
    Er drehte sich, immer noch auf dem Boden liegend, zur Seite und stieß mit der Hüfte gegen den Koffer, der einen seltsamen Geruchverströmte. Vorsichtig brachte er sein Gesicht näher an den Koffer heran. Er schien mit einem dunklen Pulver gefüllt zu sein, eine Art trockener Erde, aber was war mit dem Geld geschehen, fragte sich Karl. Und plötzlich wusste er, dass es sich bei dem dunklen Pulver nicht um trockene Erde handelte, sondern, klarerweise, um Asche. Die glühende Tränengasgranate war im Koffer gelandet und hatte das Geld in Brand gesetzt. Nichts mehr da, alles weg. Karl blinzelte und stocherte mit den Fingern in der immer noch schwelenden Asche herum, betastete mit wehmütigem Gesicht den heißen Metallzylinder und stieß schließlich auf einen intakten Fünfhunderteuroschein. Er starrte ihn an, drehte ihn um, betrachtete die Brücke und die Sterne, dann lachte er plötzlich auf, warf den Schein zurück in den Koffer, sah zu, wie er von der Glut langsam angeknabbert und schließlich in Asche verwandelt wurde, und sein Lachen wurde lauter und schriller und als der WEGA-Beamte aus dem Nebel auftauchte, ihn hochhob und Richtung Tür schleppte, war aus Karls Gelächter ein hysterisches, verzücktes Kreischen geworden.
    Ich sehe das Licht, denkt sich Patrick Berger, den Behälter nach wie vor eisern umklammernd, da vorne ist es, das Licht, der Tunnel, der mich hier herausführt, der Verbindungsgang, der Weg in ein anderes, besseres Leben, da vorne ist er, nur noch wenige Meter, dann hast du es geschafft, du bist draußen aus der Halle, nichts kann dir mehr passieren, du hast sie alle besiegt, alle hast du sie besiegt, jeden einzelnen von ihnen, du gehst einfach auf das Licht zu, trittst in den Gang und verschwindest von hier, spurlos, so als hätte es dich nie gegeben, und am anderen Ende des Ganges kommst du raus und du stehst auf einer Terrasse eines Hochhauses in Moskau und schaust hinunter auf die Stadt, die in Gedanken bereits dir gehört, und weit hinten, am Horizont, schimmern die Schornsteine deiner Fabrik, die rund um die Uhr, vierundzwanzig Stunden, besetzt ist, dort wird nonstop gearbeitet, unermüdlich, ohne Pause.
    Seine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher