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Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch
Autoren: Bernd Hontschik
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Verhältnis von Zelle, Gewebe und Organ anschaulich, indem sie es mit Familie, Volk und Staat vergleichen und damit der Familie eine naturgegebene Funktion zuweisen: »So wie Zelle, Gewebe und Organe für sich betrachtet […] ›autonom‹ sind und bestimmte Gesetzmäßigkeiten in ihrem Verhalten aufweisen, ebenso sehr sind die Zelle im Gewebsverband, das Gewebe im Organverband und das Organ im Verband des Organismus ›hyponom‹, sie haben sich der Funktion der höheren Einheit jeweils unterzuordnen, so wie auch die Einheit des Organismus, das Individuum, hyponom [ist] in Bezug auf seine höhere Einheit (Familie, Volk und Staat).« (Rein/Schneider 1964)
    Ein zutiefst erschreckendes Beispiel für diese Form des stillschweigenden Ideologietransports findet sich am selben Ort wie das eben Zitierte, in der Einführung in die Physiologie des Menschen von Hermann Rein und Max Schneider. Zum Thema des Energie- und Wärmehaushalts im menschlichen Körper wird
    dort das Folgende gesagt:
    »Die Isolationsfähigkeit ist geringer bei einer stark durchbluteten, gut durchfeuchteten Haut und größer bei besserer Entwicklung des subcutanen Fettgewebes. Deshalb kann bei der Frau mit ihrem gleichmäßigeren subcutanen Fettpolster bei gleicher Rectaltemperatur und gleicher niedriger Außentemperatur die Hauttemperatur durchschnittlich niedriger liegen als beim Mann, und deshalb ist ihr Wärmeverlust geringer. Bei der Beschaffenheit des umgebenden Milieus, das mit der Haut in Berührung steht, ist neben dessen Eigentemperatur die Wärmeleitfähigkeit ausschlaggebend. […] In Wasser mit seinem größeren Wärmeleitvermögen ist der Wärmeverlust durch Leitung wesentlich größer, wenn auch nicht proportional, […] so daß der (unbekleidete) Mensch in Wasser nur etwa 3mal soviel Wärme als in der Luft verlieren kann. Da aber der Wärmeverlust in Luft bei 20° schon etwa eineinhalbmal so groß ist wie bei 26°, bedeutet dies, daß dem Menschen in Wasser von 20° 4-5mal so viel Wärme wie unter Grundumsatzbedingungen entzogen wird. […] Nach den Erfahrungen des letzten Krieges kann der unbekleidete Mensch in Luft von + 1° nach 4 Stunden noch eine normale Körpertemperatur aufweisen, bei einstündigem Aufenthalt in Wasser gleicher Temperatur tritt jedoch schon eine tödliche Auskühlung auf 25 Grad ein; die gleiche Auskühlung kommt in Luft von minus 6 Grad nach 14 Stunden zustande.« (Rein/Schneider 1964)
    Ohne jeden Literatur- oder Quellenhinweis stand dieser Absatz im wichtigsten Physiologie-Lehrbuch meiner Generation. Was nicht dabeistand: Der Göttinger Physiologie-Ordinarius Hermann Rein war der führende Physiologe der nationalsozialistischen Luftwaffenforschung, die hauptsächlich im Konzentrationslager Dachau durchgeführtwurde. Sämtliche dieser Meßwerte stammten aus Menschenversuchen, in denen mit Unterdruck und Unterkühlung gearbeitet wurde. Nebenbei: Nach 1945 gehörte Hermann Rein (wie übrigens auch der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch) zu den Gründern nicht nur der Max-Planck-Gesellschaft in der britischen Zone, sondern auch der »Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft«, deren einer Hauptzweck es war, die Veröffentlichung des Berichts von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke über den Nürnberger NS-Ärzteprozeß, Medizin ohne Menschlichkeit , mit allen Mitteln zu verhindern. Hermann Rein starb 1954, unangetastet als Physiologie-Ordinarius, und er beharrte stets darauf, nie etwas mit dem Nationalsozialismus und dessen Menschenversuchen zu tun gehabt zu haben.
    Diese Beispiele deuten das Menschenbild in der Ausbildung von Ärzten hierzulande an: Alles hängt miteinander zusammen. Alles ist naturgegeben. Nichts ist konstruiert. Die Eigenheiten der Geschlechter sind naturgegeben. Die kapitalistische Produktionsweise ist naturgegeben. Die Familie ist naturgegeben. Und wenn der Mensch nur eine triviale Maschine ist, dann kann man ihn auch eiskaltem Wasser aussetzen und mit der Stoppuhr daneben stehen und warten, bis er stirbt. Das Paradigma der trivialen Maschine ist die Voraussetzung für eine Medizin ohne Menschlichkeit.
    Mit ein wenig Neid schaue ich heute auf meine amerikanischen Studienkollegen: Schon in den vierziger und fünfziger Jahren erhielt jeder Medizinstudent in Harvard, dem Mekka der modernen, besonders auch der hochtechnisierten Schulmedizin, zu Beginn seines Studiums ein kleines Heftchen. Darin war unter dem Titel Arzt undPatient ein Text von Francis Weld Peabody abgedruckt, einem der
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