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Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch
Autoren: Bernd Hontschik
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beeindruckt. So ein Chirurg wollte ich auch werden!
    Von da an verbrachte ich meine Schulferien immer wieder auf chirurgischen Stationen und arbeitete als Pflegehelfer. Dabei ist man den Patienten sehr nahe: Bettpfannen leeren, Essen austeilen, Bettwäsche wechseln, beimWaschen und Anziehen helfen. Schwestern und Pfleger ließen mich bei ihrer Arbeit zusehen, wobei mich besonders die Verbandsvisite faszinierte. Ich war nur immer wieder etwas verwirrt davon, wie verschieden die Chirurgen beurteilt wurden. Manche waren bei den Patienten sehr beliebt und geachtet, während Schwestern und Pfleger sie offensichtlich weniger mochten – und umgekehrt. So gab es zum Beispiel Chirurgen, die sich bei der Visite Zeit nahmen, was die Patienten sehr schätzten; das Pflegepersonal aber war von der überlangen Visitendauer nicht begeistert. Im OP, in den ich manchmal mit hineindurfte, lernte ich wieder ganz andere Kriterien kennen, anhand deren etwa OP-Schwestern einen Chirurgen beurteilten: Erschien er pünktlich zur OP, wie benahm er sich, wenn es Komplikationen und Streß gab, operierte er langsam oder schnell? Überrascht stellte ich fest, daß die Chirurgen, die auf Station unbeliebt waren, im OP manchmal als die besten galten. Deswegen beschloß ich damals, ein Chirurg zu werden, den alle mochten.
    So begann ich mein Medizinstudium. Der Start war jedoch eine einzige Enttäuschung: Mit Patienten hatte ich gar nichts zu tun, alles blieb Theorie und
    kam mir vor wie eine gehobene Fortsetzung der gymnasialen Oberstufe in den Naturwissenschaften. Bücher, Bücher, Bücher, die aber eigentlich nur auswendig
    gelernt werden sollten, so daß der Versuch, eigenständig zu denken oder nachzudenken, eher störend wirkte. Es war offensichtlich, daß ich, wollte ich
    darüber hinaus etwas lernen, dieser Art des Studiums etwas Eigenes hinzufügen mußte, und so begann ich bald, mich für die psychosozialen Fächer zu
    interessieren, welche die damals gerade erneuerte Ausbildungsordnung in die Pflichtvorlesungen eingeführt hatte.
    Dadurch entstand aber eine seltsame Art von Doppelung, die ich zunächst nur als Unbehagen fühlte, ohne sie benennen zu können. Es war keine einheitliche Ausbildung zum Arzt, an der ich da teilnahm, sondern ein bis zum Ende meines Studiums zweigleisig bleibender Kurs: Einerseits absolvierte ich meine Pflichtvorlesungen und -kurse und häufte immer mehr Wissen über Formeln, Zellstrukturen, Gewebsschnitte und Medikamente an, andererseits (ich wollte schließlich kein Mechaniker werden) besuchte ich zusätzliche Veranstaltungen in den psychosozialen Fächern und in der Psychosomatik und wurde Mitglied einer studentischen Balintgruppe (nach dem Psychoanalytiker Michael Balint), in der man durch gemeinsame Fallbesprechungen mehr über die Wirklichkeit der Patienten und die ärztliche Tätigkeit lernen konnte. Durch diese zusätzlichen Anstrengungen konnte ich zwar vieles lernen, was mir im normalen Studienbetrieb verborgen geblieben war, aber sie führten mich immer wieder zu der Frage, wie ich denn später mit den während meiner Ausbildung zum ›Gesundheitstechniker‹ erworbenen Kenntnissen arbeiten würde. Worum ging es bei meiner Erziehung zum Arzt? Was hatte ich gelernt?
    Fast jeder Arzt kann zum Beispiel noch Jahrzehnte nach seinem Studium die acht Handwurzelknochen in der richtigen Reihenfolge aufzählen. Für sein Examen hat er nämlich einmal einen völlig sinnentleerten Spruch auswendig gelernt: »Ein Schiffchen fährt im Mondenschein im Dreieck um das Erbsenbein; Vieleck groß, Vieleck klein – der Kopf, der muß am Haken sein.« Einen absurderen Satz kann man sich kaum vorstellen, aber so heißen diese Knochen eben, wenn man nicht die lateinischen, sondern die deutschen Begriffe verwendet: Kahnbein,Mondbein, Dreieckbein, Erbsenbein usw. Viele dieser Eselsbrücken, so hilfreich sie auch sein mögen, verweisen allerdings zwischen den Zeilen häufig auch auf Prinzipien und Wertvorstellungen, die wir als Studenten neben den Muskeln, Nerven, Knochen, Formeln und Zyklen beigebracht bekamen, meistens ohne es zu bemerken.
    Die Lehrbücher, die zu meiner Zeit in Gebrauch waren und zum Teil auch heute noch verwendet werden, sind in dieser Hinsicht verräterisch. So ziehen sie zum Beispiel Parallelen zwischen dem Stoffwechsel einer Zelle und der Fließbandarbeit in einer Fabrik und legen so die Auffassung nahe, es gäbe nichts Natürlicheres als die kapitalistische Produktionsweise. Oder sie machen das
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