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Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch
Autoren: Bernd Hontschik
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wiedergegeben.
    Gleich nach dem Gipsen gehe ich in den OP, Haube und Mundschutz, Händewaschen, Kittel, Handschuhe, kleine Haken einsetzen: Eine vermeintlich kleine Talgdrüse hinter dem Ohr hat sich als immer größer werdender, verwinkelter und stark blutender Lymphknoten herausgestellt. Deswegen hat der Patient inzwischen eine Vollnarkose erhalten. Zu zweit geht uns die Operation rasch und sicher von der Hand. Mein Kollege schimpft dabei leise nicht nur über die versteckten Blutgefäße, sondernauch über die Versicherung des Patienten, die AOK; es ist schon Juni, der dritte Monat im Quartal, unser Budget für AOK-Patienten ist seit Ende Mai erschöpft, die ganze schwierige Operation führen wir, zwei Fachärzte für Chirurgie, wahrscheinlich für null Euro durch. Wenn der angekündigte ›Abszeß‹ aus der Krankenhausambulanz ebenfalls ein AOK-Patient ist, werden wir heute rote Zahlen geschrieben haben.
    Bei unserem Patienten mit dem Lymphknoten hinter dem Ohr wird sich später zeigen, daß ein Hodgkin-Lymphom dahintersteckt, eine gefürchtete bösartige Erkrankung, die aber oft mit Erfolg behandelbar, sogar heilbar ist. Ich werde ihn zu Onkologen, den auf die Behandlung von Krebserkrankungen spezialisierten Kollegen, schicken müssen. Als der Patient nach Wochen wieder in meine Sprechstunde kommt, erzählt er mir, daß keiner dieser Ärzte wirklich mit ihm gesprochen habe: »Wir müssen eine Chemo machen« – das war schon fast die ganze Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Überstanden hat er es trotzdem, aber nicht nur sein Körper ist schwer verletzt und wird lange brauchen, bis er sich erholt hat.
    Der Arbeitstag ist bereits fortgeschritten, nun ist der Schreibtisch mit all den Formularen an der Reihe. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen verlangt Auskunft über Auskunft, eine Rechtfertigung für diese Verordnung und eine Begründung für jene Operation. Vor jeder Verordnung von Krankengymnastik muß ich neuerdings ein Buch wälzen, um den sechsstelligen Code für die Begründung zu finden. Die Diagnosen und inzwischen auch die Art der Operationen müssen verschlüsselt werden. Die Kontrollpapiere der Kassenärztlichen Vereinigung kann man gar nicht alle aufzählen. Zulassungenmüssen erneuert werden. Das Gesundheitsamt meldet sich für eine Hygienekontrolle an. Hausärzte wollen einen Arztbrief von mir. Die Abrechnungsziffern der heutigen Arbeit müssen in den Computer eingegeben werden. Die Gebührenordnungen sind in drei dicken Büchern enthalten, eines für die Krankenkassen, eines für Privatversicherte, eines für Arbeitsunfälle. Für die Operationscodes reicht ein Buch allein nicht aus – es sind gleich zwei. Die Fortbildung, die ich vor kurzem besucht habe, muß mit Punkten auf einem Barcode-Chip registriert werden. Und wieder liegt ein Stapel Anfragen vom Versorgungsamt vor.
    Das hatte ich mir so nicht vorgestellt, als ich Arzt werden wollte. Immerhin hatte ich mich für ein Studium der Medizin, nicht der Verwaltung oder Betriebswirtschaft entschieden. Zu allem Überfluß und zu meinem Überdruß erhielt ich außerdem vor kurzem einen Brief von meiner Kassenärztlichen Vereinigung: Man habe durch externe Gutachter festgestellt, daß alle Abrechnungen und Vergütungen der letzten eineinhalb Jahre wahrscheinlich falsch seien und deswegen neu erstellt werden müßten. Das Ganze dauere sicher bis Anfang des nächsten Jahres. Zwei Jahre lang werden nun die betriebswirtschaftlichen Zahlen meiner Praxis auf tönernen Füßen stehen. Das dreizehnte Monatsgehalt muß gestrichen werden, an Neueinstellungen oder Investitionen ist nicht zu denken.
    Jeden Tag kommen etwa 60 bis 100 Patienten in meine Praxis. Manche bleiben nur ganz kurz, erhalten innerhalb von wenigen Minuten einen neuen Verband. Andere sind zum ersten Mal da, hatten einen Unfall, oder es schmerzt ein Abszeß. Wieder andere haben eine lange Krankengeschichte, und nicht selten ist eine Stunde Gesprächszeitnötig; der Arzt muß zuhören, fehlende Befunde besorgen, sich ein Bild machen. So wie im Fall der Patientin mit dem umgeknickten Sprunggelenk hat jeder Unfall, jede Krankheit eine eigene, unverwechselbare Geschichte.
    Die Arbeit ist abwechslungsreich, sie macht mir Freude. Aber sie wird immer schwieriger. Die Medizin, die Heilkunst, die ich gelernt habe, hilft mir, einen Beruf auszuüben, den ich liebe. Aber die Gesellschaft mit ihrem Gesundheitswesen, in dem ich mich mit meiner Arbeit bewegen muß, macht es mir mit jedem Tag
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