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Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch
Autoren: Bernd Hontschik
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bekanntesten Internisten und angesehensten Ärzte des vergangenen Jahrhunderts. Das Bändchen sollte die Medizinstudenten auf ihr Studium vorbereiten und enthielt zum Beispiel die folgenden Passagen:
    »Die Ausübung der Medizin […] beinhaltet die ganze Beziehung des Arztes zu seinem Patienten. Zwar basiert die ärztliche Kunst auf einem ständig größer werdenden Bereich medizinischer Wissenschaften, aber sie beinhaltet ebenso vieles, was immer noch außerhalb des Bereiches jeglicher Wissenschaft liegt.
    Die Kunst der Medizin und die Wissenschaft der Medizin sind nicht feindselig; sie ergänzen sich. Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Kunst der Medizin und der Wissenschaft der Medizin, genausowenig wie zwischen der Wissenschaft von der Luftfahrt und der Kunst des Fliegens. […]
    Ein Patient, der das Krankenhaus betritt, verliert häufig seine persönliche Identität. Man sieht ihn nicht als Henry Jones, aber als ›die Mitralstenose im zweiten Bett auf der linken Seite‹. […] Das Unangenehme daran ist, […] daß der Patient als ein Fall von Mitralstenose behandelt wird und nicht als kranker Mensch. Die Krankheit wird behandelt, aber Henry Jones, der nachts wach liegt und sich währenddessen um seine Frau und Kinder sorgt, stellt ein Problem dar, das viel komplexer ist als die pathologische Physiologie der Mitralstenose. Er wird nicht gesund, es sei denn, ein kritischer Medizinalassistent entdeckt zufällig, daß auch große Mengen Digitalis nicht helfen und der Puls sich nicht normalisiert. Henry hat eine Herzkrankheit, aber seine Atemnot stört ihn nicht so sehr wie die Ungewißheit über seine Zukunft. Mehr als eine Listevon Medikamenten und Diäten würde es Henry helfen, wenn ein […] Arzt das Gespräch mit ihm sucht […].« (Peabody 1930)
    Leider hatte ich derartige Texte als Medizinstudent nie zu Gesicht bekommen, sondern las sie erst zu einer Zeit, als ich meinen Beruf schon viele Jahre ausübte.
    Dann war mein Studium beendet, und ich bewarb mich auf eine chirurgische Assistenzarztstelle: Endlich war ich Chirurg! Natürlich war ich erst einmal nur ein kleiner Assistenzarzt, aber schon am ersten Tag konnte man auf die Frage, was man denn sei, stolz »Chirurg« antworten. Mit der Zweigleisigkeit, die ich mir im Studium durch zusätzliche Anstrengungen noch hatte erhalten können, war es nun aus, statt dessen ging es strikt eingleisig weiter: Das Erlernen von Techniken bildete den ausschließlichen Inhalt meiner Ausbildung. Meine Lektüre bestand in Operationslehren, und wenn man sich den achtbändigen ›Baumgartl‹ gekauft und im Arztzimmer auffällig und gut sichtbar im Bücherregal plaziert hatte, dann gehörte man dazu, selbst wenn man sich noch keine 100 der über 5 600 Seiten wirklich zu Gemüte geführt hatte.
    Daß sich mein früheres Ideal, nach Ansicht aller ein guter Chirurg zu sein, nicht verwirklichen ließ, merkte ich schnell, da mochte ich lesen und
    studieren, soviel ich wollte. An das, was meine Patienten von mir erwarteten, konnte ich mich noch aus meiner Zeit als Pflegehelfer erinnern. Für meine
    Kollegen war es schon wichtiger, ob ich bereit war, Nachtdienste zu übernehmen oder zu tauschen. Mein Chef ließ sich, wenn überhaupt, nur dadurch
    beeindrucken, daß ich bei der wöchentlichen Rasanz-Visite die Befunde ohne langes Suchen parat hatte.
    Nach etwa einem Jahr wurde ich als Operateur eingeteilt; wie damals noch üblich, war eine Appendektomie mein erster ›selbständig‹ durchgeführter Eingriff. Noch heute, nach mehr als 25 Jahren, weiß ich die Namen der Patientin, meiner Mitoperateure und der Narkoseärztin. In der Nacht nach der OP schlief ich sehr unruhig, und in den folgenden Tagen erkundete ich immer wieder, wie es der Patientin ging. Die älteren Kollegen grinsten schon ein wenig. Das Gefühl, eine Operation erfolgreich durchgeführt zu haben, war genau so, wie ich es mir erträumt hatte. Aber was einen guten Chirurgen ausmachte, wußte ich noch immer nicht. Vor allen Dingen war der entfernte Wurmfortsatz des Blinddarms gar nicht entzündet gewesen – was sicherlich zum Gelingen der Operation wesentlich beigetragen hatte. Ich hatte es zwar gut gemacht, aber was hatte ich da eigentlich gemacht?
    Meine Fortschritte beim Operieren beschäftigten mich sehr. Nach einigen Jahren durfte ich immer schwierigere und technisch anspruchsvollere Eingriffe durchführen. Einmal war ich für die Entfernung einer Gallenblase eingeteilt. Schon bald nach Eröffnung der
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