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Kobra

Kobra

Titel: Kobra
Autoren: Christina Czarnowske
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„rufen Sie mich an. Hier, unter dieser Nummer. Verlangen Sie Dr. Vincent Bouché.“ 
    „Sie sind Arzt?“ der junge Mann staunt. „Und ich dachte ...“ 
    Ich weiß sehr gut, was er gedacht hat. Medizin und Police Nationale erscheinen ihm unvereinbar.
    „Ja. Arzt und Inspecteur général.“ Damit kehrt ein Teil des Respekts zurück, der sich bei der Erwähnung des Wortes „Doktor“ merklich verringert hatte. 

3. Kapitel
     
     
    Delacroix’s Zimmer ist noch so, wie wir es verlassen haben. Die Spritze und die Ampullen auf dem Nachttischchen, das Sakko auf dem Stuhl, der Koffer, die Tasche. 
    Sophie hat es geschafft, nicht nur die beiden Brüder Rozier aus den Betten zu holen, sondern noch zwei andere – einen von der Spurensicherung und den Forensiker. Während ich im Sessel sitze und mich mit dem befasse, wofür ich diese zwei Stunden bis zum Morgen bestimmt hatte – Delacroix’s Brieftasche und eine Liste seiner Sachen –, geht jeder an seine Arbeit.  
    Die Brüder richten sich auf dem Schreibtisch ein und erörtern halblaut die Vorzüge und Unzugänglichkeiten von Geheimschlössern. Dann holen sie ihre Requisiten heraus – Lupen, winzige Lämpchen an dünnen Drähten, gedrehte Stahlnadeln – und wechseln ab und an ein paar Worte wie „Abnutzungsgrad“, „Wahrscheinlichkeitskoeffizient“ und so fort. Der Ballistiker poltert im Vorraum, und der Mann von der Daktyloskopie stürzt sich auf die Spuren seiner körperlichen Opfer, die Fingerabdrücke. Sophie ist irgendwo geblieben, aber ich brauche sie im Moment nicht.  
    Ich ziehe Handschuhe an und klappe die Brieftasche auf. In sie setze ich meine größte Hoffnung, denn nichts verrät einen Mann so wie das, was er in seiner Brieftasche hat. Dinge haben ihre eigene Psychologie, die man gut kennen muss. Genauer: Brieftaschen sind wie Hunde, sie nehmen den Charakter ihrer Besitzer an. Es gibt stille, vorsichtige Brieftaschen, in denen Ordnung die Angst überdeckt. Andere sind laut und leichtsinnig, voller Telefonnummern, nicht gehaltenen Versprechungen und Fotos von Frauen. Es gibt geizige, verbiesterte Brieftaschen. Die sind ungeschlacht, scheinbar ärmlich, stecken voller Verbitterung und Gerichtsvorladungen. Zur Psychologie der Brieftaschen gibt es überhaupt einiges zu wissen.
    Ich habe mir vorgenommen, wenn ich in Pension gehe, ein Buch „Psychologie der Dinge“ zu schreiben. Dann habe ich reichlich Zeit und kann es in aller Ruhe durchdenken – im Hausanzug und mit Pantoffeln an den Füssen, vor einer Tasse Tee mit Zitrone und nicht wie jetzt im Zimmer eines Toten, der unter recht unklaren Umständen ums Leben gekommen ist. 
    Raphael Delacroix’s Brieftasche ist betont nüchtern. Nichts Überflüssiges ist drin. Ein Heft mit Reiseschecks, ein paar Banknoten, Visitenkarten, Kreditkarten, eine Bescheinigung und Vollmacht der Firma Lombardia Mailand, Aktiengesellschaften für den Handel mit Öl, ein paar in Beirut abgestempelte Posteinlieferungsscheine und die Aufgabebestätigung für ein Telegramm Beirut-Paris. Die lege ich beiseite. Vielleicht ist es das Telegramm für die Zimmerbestellung, das Jean Legrand erwähnt hat. In einem Fach der Brieftasche steckt ein Flugticket. 
    Es ist von der Interavia für einen Flug nach Wien – Delacroix hätte heute am Morgen abfliegen müssen.
    Ich klappe den Pass auf.
    Raphael Luis Delacroix, geboren in Monrovia Liberia, unverheiratet, von Beruf Betriebswirt.
    Vom Foto sieht mich ein Mann um die Fünfzig an, ein südländischer Typ mit müdem Gesicht und dunklen, ausdruckslosen Augen. Leiter der Filiale Lombardia Beirut, wenn man den Visitenkarten glauben kann. Aber Delacroix sieht wirklich wie ein kaufmännischer Manager aus. Und ist viel herumgereist. Die für Visa bestimmten Seiten in seinem Pass sind voller Stempel – runden, quadratischen, vieleckigen, mit und ohne Emblem. Ich suche unseren Stempel und finde ihn. Flugplatz Paris, gestern angekommen.
    Ich stecke den Pass in den Beutel, dann wende ich mich wieder der Brieftasche zu. Nein, darin ist entschieden nichts von dem, was ich brauche. Ich will wissen, weshalb ein kaufmännischer Manager, der die Absicht hat, nach Wien zu fliegen, sich ausgerechnet in Paris umbringt. Und ich will wissen, ob er überhaupt Selbstmord verübt oder ihm jemand bei diesem Vorhaben geholfen hat.
    Die Augenblicksdepression eines Morphinisten ist eine bekannte und mögliche Erklärung, aber sie muss bewiesen werden. Ich denke auch an die Frauenstimme, die von der
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