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Knochenkälte

Titel: Knochenkälte
Autoren: PeP eBooks
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Aber das Ojibwa-Blut prägt ihre Gesichtszüge stärker - die hohen Wangenknochen, die kräftige Nase und der breite Mund mit der rasierklingenfeinen Narbe auf der Unterlippe, wo einer ihrer Gegner mal einen Treffer gelandet hatte. In letzter Zeit muss ich ständig an diese Narbe denken, wenn ich mich nachts in meinem neuen Bett in der neuen Stadt herumwälze. Ich überlege, wie es sein muss, die Narbe mit meiner Zunge nachzufahren.
    »Was starrst du mich so an?«, fragt Ash. Ihre schwarzen Augen sind in der Nacht noch schwärzer.
    »Darf ich jetzt trotzdem mal grapschen?«
    Sie schnaubt. »Du hast mich doch nicht gefangen.«
    »Aber fast.«
    »Knapp daneben ist auch vorbei.«

    Sie will sich wegdrehen. Aber dann überlegt sie es sich anders, packt mich beim Kragen und reißt mich an sich. Ihre Lippen prallen gegen meine. Sie sind schockierend warm, ein bisschen rissig und der absolute Hammer. Ich will Ash in den Arm nehmen, aber ihre Handflächen stemmen sich gegen meinen Brustkorb und drücken mich weg.
    »Wenn du jemandem davon erzählst«, sagt sie, »bring ich dich um.«
    Ich stehe da wie belämmert und versuche, mir irgendeine geistreiche Antwort einfallen zu lassen.
    Aber da ist sie schon weg, sprintet Feldweg 5 entlang und lässt mich mit meinem bescheuerten, breiten Grinsen einfach stehen. Im Handumdrehen ist sie in der Finsternis verschwunden.
    »Bis morgen in der Schule dann«, sage ich schließlich in die Leere hinein.

vier
    Benommen und wie im Delirium taumele ich durch die Dunkelheit nach Hause
    Der Wind peitscht jetzt stärker, schneidet mich mittendurch. Also fange ich an zu rennen. Dad hat zu Hause bestimmt den Kamin angemacht, sodass es drin schön kuschelig warm ist.
    Außerhalb der Saison, wenn der Besitzer in Florida überwintert, arbeitet Dad als Bootswächter im Jachthafen von Harvest Cove. Das kleine Bootshaus ist sozusagen die Dienstwohnung, die zum Job dazugehört. Im Erdgeschoss ist das Büro, wo man Köder kaufen und Boote mieten kann, oben drüber wohnen wir.
    Es ist ein befristeter Job. Für uns ist alles befristet. Im Frühjahr ziehen wir weiter in die nächste Stadt, ins nächste Leben. Ich will jetzt nicht daran denken.
    Stattdessen denke ich lieber an Ash.
    Am ersten Schultag hatte ich mich auf meinen Stuhl gefläzt. Immer schön den Ball flach halten. Neuer Wohnort, neue Gesichter. Und trotzdem immer die gleiche Leier. Da spazierte auf einmal das Boxmädchen rein, das mich k. o. geschlagen hatte. Ich sank noch tiefer auf den Stuhl, in der Hoffnung,
sie würde mich nicht sehen, und starrte auf den Boden. Aber dann blieben zwei schwarze Army-Stiefel direkt neben mir stehen. Ich sah hoch - und in die dunklen Augen meiner Mörderin.
    »Hey, Killer. Bereit für’ne Revanche?« Sie grinste von einem Ohr zum anderen.
    Dann pflanzte sie sich auf den Stuhl vor mir und ich musste mir den Rest des Tages ihren Nacken ansehen. Echt hübscher Nacken, wie sich herausstellte. Und der Rest war auch echt hübsch.
    Ich lecke mir beim Laufen die Lippen und schmecke ihren Mars-Riegel. Und was mache ich jetzt, wenn wir uns morgen in der Schule sehen? Sie wird bestimmt so tun, als wäre nichts gewesen. Am besten, ich spiele mit...
    Was zum Teufel war das? Aus dem Augenwinkel erhasche ich einen Blick auf etwas Großes, das sich durch den rechten Straßengraben schiebt. Als ich genauer hinsehen will, ist es schon wieder verschwunden. Es war hell und schnell. Und groß!
    Ich bremse auf Spazierganggeschwindigkeit ab und versuche, den schwachen Schein des zunehmenden Mondes mit Blicken zu durchdringen. Ohne näher an den Straßengraben ranzugehen, kann ich nur Grautöne erkennen - Dunkel, Dun k-ler und Amdunkelsten.
    Kein Mensch, der auch nur eine Gehirnzelle besitzt, geht in so einer Nacht raus. Wie sagte mein Großvater immer? Solche Nächte sind nichts für Mensch und Tier. Für mich auch nicht.
    Ich renne wieder los. Der ganze Wahnsinn der vergangenen Stunden hat mich reizbar gemacht, als stünde ich unter Strom.

    Das setzt wohl meinem Gehirn zu. Und die Unterkühlung setzt noch einen drauf.
    Auf Höhe von Feldweg 4 sehe ich die Glühwürmchenlichter der Häuser, die ein Stück nach hinten versetzt stehen. Der Wind trägt den Geruch von brennendem Holz aus den Kaminen zu mir. Der Geschmack des Rauchs, der in der Luft hängt, lockt mich mit dem Versprechen auf Wärme und lässt die Kälte hier draußen noch eisiger erscheinen.
    Als ich vorbei bin, flackert wieder eine Gestalt am Rand meiner Wahrnehmung
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