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Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

Titel: Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)
Autoren: Sendhil Mullainathan
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geplante Struktur ist mit der Sorgfalt einer Honigwabe gebaut. 9 Junge Arbeitsbienen fressen Honig und schwitzen Wachskörnchen aus. Der Wechselkurs ist hoch: Für jedes Kilo Wachs braucht man acht Kilo Honig, wofür 180   000 einzelne Flüge von Bienen nötig sind, die Nektar von den Blüten sammeln. Die Wachsklumpen werden von den Bienen zusammengeklebt, wobei sie die Körperwärme nutzen, um das Wachs zu erwärmen und formbar zu machen. Nun tragen die Bienen Stück für Stück zusammen und schaffen die Platten, aus denen die Waben aufgebaut werden. Die Arbeit geht stückchenweise an Ort und Stelle voran, ohne dass ein Chef die Aufsicht führt. Stellen Sie sich eine Sandburg vor, die Sandkorn für Sandkorn aufgebaut wird, wobei Sie nie sehen, wo Sie gerade sind, und wobei niemand die Bauaufsicht führt. Und jetzt stellen Sie sich vor, das Ganze mit Hunderten von Freunden in völliger Dunkelheit fertigzubringen. Aber bei den Bienen funktioniert es. Sie bauen Wände, die bemerkenswert genau mit 120 Grad aufeinandertreffen und damit Sechsecke bilden, die dem Auge perfekt erscheinen. Die Wände sind dünner als 0,1 mm, die Abweichungen betragen nur +/- 0,002 mm. 10 Das ist eine Toleranz von 2 Prozent − kein schlechter Standard für ein Bauwerk. Zum Vergleich: Das National Institute of Standards and Technology erlaubt bei industriell hergestelltem Sperrholz, das beim Bau verwendet wird, 10 Prozent Toleranz in der Breite.
    Wie die Bienen sind auch die Grabwespen ( Trypoxylon politum Say) Nestbauer, aber ihr Baustoff ist Matsch. 11 Sie stechen Spinnen und stopfen zwei Dutzend von deren Körpern in das Nest, legen ihre Eier und versiegeln es. Die geschlüpften Larven fressen die totgestochene Beute und überleben den Winter im versiegelten Nest. Anders als die Honigbienen sind die Wespen keine eleganten Hausbauer. Die Zellen sind ungefähr zylindrisch, aber sie sind ziemlich chaotisch aneinandergeklebt − ohne die Präzision der Bienenwabe.
    Warum bauen die Bienen so präzise Waben und die Wespen so chaotische? Es ist die Knappheit. Die Wespen verbauen Material, das in Fülle herumliegt: Matsch. Die Bienen verbauen Material, das selten ist: Wachs. Das Bienenwachs muss wie der Raum in einem engen Koffer oder Dollars in harten Zeiten sparsam verwendet werden. Schlecht zu bauen ist gleichbedeutend mit Wachsverschwendung. Das bietet den Anreiz, effizient zu sein und gut zu packen. Die Wespen haben andererseits jede Menge Material: Es gibt reichlich Matsch zum Verbauen. Wespen können es sich leisten, Reserven zu bilden und schludrig zu bauen, weil ihr Baumaterial billig ist. Die Bienen sind dazu nicht in der Lage: Ihr Baumaterial ist teuer.
    Mit den Armen und Reichen ist es ähnlich. Stellen Sie sich vor, dass Sie vor dem Packen des Koffers die Dinge auf das Bett legen, die Sie mitnehmen wollen. Die wichtigsten Dinge liegen links, die unnötigsten rechts. Für eine dreitägige Reise wird das erste Paar Slips ganz weit links liegen, das fünfte Paar ganz weit rechts. Sie füllen Ihren Koffer, indem sie von wertvoll bis wertlos gehen, also von links nach rechts. Es passt eine Menge rein, bevor der Koffer voll ist. Deshalb können Sie auch Dinge einpacken, die nicht so wichtig sind, beispielsweise das fünfte Paar Slips. Der übrige Raum im Koffer der Reichen wird mit Dingen gefüllt, die nicht so wichtig sind. Der Koffer der Armen ist schon voll, wenn sie noch Dinge einpacken, die sie dringend brauchen. Raum steht beim kleinen Kofferan erster Stelle, beim großen Koffer führt er nur zu wenigen Einschränkungen. Die Ökonomen nennen diese verminderte Bedeutung »Grenznutzen«: Je mehr man schon hat, umso weniger zählt ein weiterer Zuwachs.
    In dem allen steckt eine Logik, die vor allem ökonomisch ist: Die Armen haben weniger Reserven, weil sie sich keine leisten können. Der Raum im Koffer ist für die Reichen billig (wie Matsch), aber teuer für die Armen (wie Wachs). Also packen die Reichen wie Wespen (zwanglos, ineffizient und mit Reserven). Und die Armen packen wie Bienen (sorgfältig und ohne Reserven).
    Hinter alldem steckt eine tiefe psychologische Dynamik. Machen die Armen und die Reichen eine Packpause, stellen beide fest, dass wichtige Dinge noch nicht im Koffer sind. Weil diese Dinge bei den Armen nicht hineinpassen, aber von großer Bedeutung sind, gilt ihnen eine ängstliche Aufmerksamkeit. Die Armen sehen in ihrem Tunnel nur diese Dinge und fragen sich, »Kann ich alles umordnen und dann auch noch diese Dinge
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