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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei
Autoren: J.R. Moehringer
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und sucht die Garderobe. An einem Türschild steht: Nur für Meerjungfrauen. Er spricht die erste auftauchende Meerjungfrau an und stellt sich als Reporter vor, der über Willie Sutton schreibt. Die Meerjungfrau trägt jetzt eine schimmernde aquamarinblaue Gehflosse aus hautengem Stoff, die aussieht wie ein über die Füße reichender Bleistiftrock, und schaut ihn ratlos an.
    Kennen sie Willie Sutton?, fragt Schreiber. Den Bankräuber, der letzten Monat gestorben ist?
    Leerer Blick.
    Jedenfalls habe ich das Gefühl, sagt Schreiber, dass Sutton hier viel Zeit verbracht haben könnte – am Ende. Dass er hier bei der Garderobe vorbeigeschaut haben könnte und sich vielleicht mit Ihnen oder einer der anderen Meerjungfrauen unterhalten hat.
    Sie fährt sich mit den Fingern durch das lange nasse Haar und versucht es zu entwirren. Hier schauen ständig irgendwelche Männer vorbei, sagt sie.
    Schon, sagt Schreiber. Aber der, den ich meine, hat in der dritten Person von sich gesprochen. Willie findet dich schön. Willie findet, du siehst aus wie ein Mädchen, das er mal in Poughkeepsie kannte. Solche Sachen.
    Die Meerjungfrau rückt den Bund ihrer Flosse zurecht. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, Mister. Der Name sagt mir nichts.
    Vielleicht könnten Sie eine der anderen Meerjungfrauen fragen?
    Sie holt tief Luft, als sauge sie an ihrem Luftschlauch. Warten Sie.
    Sie macht kehrt – nicht ganz einfach mit ihrer Stoffflosse – und wackelt wieder in die Garderobe.
    Schreiber lehnt sich an die Wand. Eine Minute verstreicht. Zwei. Er hat noch nie in seinem Leben geraucht, aber jetzt verspürt er ein starkes Verlangen nach einer Chesterfield.
    Die Garderobentür öffnet sich. Eine andere Meerjungfrau taucht auf. Sie ist nicht so hübsch wie die erste. Aber mit dem blonden Haar und den blauen Augen wirkt sie reiner. Auf altmodische Weise schön. Genau Willies Typ, denkt Schreiber.
    Sie trägt ebenfalls eine Stoffflosse. Knalleng. Goldgetüpfelt. Lächelnd schlingert sie auf ihn zu.
    Schreiber weiß, er sieht es in ihren Augen, dass sie einen Umschlag mit einem Brief von Willie hat. Oder das Manuskript von
Die Statue im Park
. Sie wird Schreibers Namen sagen, und er wird sie fragen, woher sie seinen Namen kennt, worauf sie sagt: Willie – er hatte so eine Ahnung, dass du hier irgendwann vorbeikommst. Dann geht sie mit ihm einen Kaffee trinken, und sie entdecken tausend Gemeinsamkeiten, verlieben sich schließlich und heiraten und bekommen Kinder, und ihr gemeinsames Leben wird Willies immerwährendes Geschenk an Schreiber sein. Er sieht alles vor sich. Er streckt die Hand aus und will etwas sagen, aber die Meerjungfrau tänzelt um ihn herum, an ihm vorbei und in die Arme eines jungen Mannes direkt hinter ihm.
    Du bist wunderschön, sagt der junge Mann zu ihr.
    Aagh, flüstert sie, ich freu mich schon, wenn ich zu Hause das blöde Kostüm ausziehen kann.
    Schreiber schlendert langsam zu seinem Auto. Er fährt zum Flughafen. Unterwegs schaltet er das Radio ein. Ein Bericht über das allererste Space Shuttle, das östlich von Spring Hill in sechs Monaten abheben soll. Schreiber blickt auf die schwarze Sumpflandschaft und die dichten Wälder und stellt sich den Start vor. Sutton hätte alles dafür gegeben, ihn zu sehen. Plötzlich fällt ihm etwas ein, das Sutton gesagt hat. Obwohl es fast auf den Tag genau vor elf Jahren war, hört er im Auto die raue Stimme, den durchgeräucherten Brooklyn-Akzent klarer als das Radio, und er muss lächeln.
    Hey, Kleiner – wusstest du, dass Collins völlig am Ende war, als die Astronauten auf die Erde zurückkamen? Er konnte nicht essen, konnte nicht schlafen. Er dämmerte mitten im Satz weg. Der Mann funktionierte einfach nicht mehr. Schließlich erzählte er den Ärzten der
NASA , dass er, nachdem er die ganze Zeit den Mond angestarrt hatte, ihn immer und immer wieder umkreist hatte, ohne ihn zu berühren, hoffnungslos verliebt war. Seine Worte, nicht meine. Verliebt in den Mond – ist das zu fassen, Kleiner? Stell dir vor, wie verflucht einsam du sein musst, um dich in den Mond zu verlieben?

Dank
    Vielen Dank an Andre Agassi, Hildy Linn Angius, Ellen Archer, Spencer Barnett, Violet Barnett, Lyle Barnett, Aimee Bell, Elisabeth Dyssegaard, Fred Favero, Gary Fisketjon, Rich Gold, Paul Hurley, Bill Husted, Mort Janklow, Ginger Martin, Eric Mercado, McGraw Milhaven, Dorothy Moehringer, Sam O’Brien, J. P. Parenti, Joni Parenti, Kit Rachlis, Derk Richardson, Jaimee Rose, Jack La
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