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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei
Autoren: J.R. Moehringer
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nicht fertig. Er wird das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben, nicht das gefunden zu haben, weswegen er kam. Irgendeinen Tipp, ein Zeichen. Ein Mann, der aus drei Hochsicherheitsgefängnissen geflohen war, konnte unmöglich der Versuchung widerstehen, eine Nachricht aus dem Jenseits zu schicken. Eine Art Gruß. Einen posthumen Hinweis.
    Auf der Rückfahrt vom Steakhaus zum Hotel sieht Schreiber ein, dass dies eine lächerliche Hoffnung ist. Aber auch nicht lächerlicher, als einen abgebrühten, halsstarrigen Verbrecher zu mögen. Er korrigiert sich. Er mochte ihn nicht im üblichen Wortsinn. Er möchte nicht in einer Welt voller Willie Suttons leben. Er weiß nur nicht so recht, ob er in einer Welt
ohne
Willie Suttons leben möchte.
    Schreiber liegt auf dem Hotelbett und liest noch einmal ein paar Seiten in Suttons zweitem Erinnerungsbuch. Er lacht. Außer Sutton hat in der Geschichte der Literatur vermutlich niemand zwei Memoiren geschrieben, die sich selbst in grundlegenden Fakten völlig widersprechen. In dem einen heißt es zum Beispiel, dass er vor dem Ausbruch aus Sing Sing mit Egan für das Bereitstehen eines leeren Fluchtautos vor dem Gefängnis gesorgt hatte. Im anderen schreibt er, die Mutter seiner Tochter habe das Fluchtauto gefahren. Trotzdem hört Schreiber Suttons wiederholte Beschreibung von Bess, die am Steuer saß, als er und Egan den Hügel hinaufrannten.
    In einer Version beschreibt Sutton detailliert den Überfall auf Manufacturers Trust of Queens. In der anderen schwört er, dass er es nicht war. Und so fort.
    Wie viele Widersprüche in Suttons Erinnerungsbüchern oder in seinem Kopf beabsichtigt oder wie viele auf Demenz zurückzuführen waren, weiß Schreiber nicht. Seine aktuelle Theorie ist, dass Sutton drei verschiedene Leben führte. Eines, an das er sich erinnerte, eines, das er den Leuten erzählte, und eines, das sich wirklich abgespielt hat. Wo sich diese Leben überlappten, weiß niemand, und Gott stehe dem bei, der es herauszufinden versucht. Sutton wusste es höchstwahrscheinlich selbst nicht.
    Schreiber hat überall nach Bess Endner gesucht, aber sie ist verschwunden. Er hat alles auf den Kopf gestellt, um Margaret zu finden – auch da keine Spur. Er hat Aberhunderte Dokumente vom FBI bekommen, jede Menge alte Zeitungen, Magazine und Gerichtsprotokolle studiert, lang verlorene Polizeiakten über Arnold Schuster durchgesehen, Akten, die auf dem Dachboden eines pensionierten Polizisten herumlagen. Nichts führt irgendwohin. Die FBI -Akten widersprechen den Zeitungsausschnitten, die Zeitungsausschnitte widersprechen den Polizeiakten, und Suttons zwei Erinnerungsbücher widerlegen sich selbst und alles Übrige. Je mehr Schreiber nachforscht, desto weniger weiß er, bis er sich irgendwann vorkommt, als hätte er Weihnachten vor elf Jahren mit dem Schatten eines Phantoms verbracht.
    Eines der vielen FBI -Dokumente trägt die Überschrift: Interessanter Bericht. Ein Psychogramm zu Sutton, verfasst 1950 von einem Agenten, als Sutton der meistgesuchte Flüchtige des Landes war.
    RELIGION : Sutton war römisch-katholisch, aber sein Glaube wurde durch Lektüre zerstört.
    FREIZEITGEWOHNHEITEN : Verbrachte den Großteil seiner Zeit mit Lesen, ging alle zwei Wochen ins Kino, alle sechs Monate ins Theater, besuchte Footballspiele, machte lange Ausflüge mit dem Auto und rauchte. Las Klassiker.
    PERSÖNLICHKEIT UND TEMPERAMENT : Chronisch introvertiert, aber ungefährlich; Depressionen mit gelegentlichen Selbstmordtendenzen; emotionale Instabilität mit Hinweisen auf Wahrnehmungsstörungen; neigt zu Unruhe und Angst; allgemeines neurotisches Unvermögen, dauerhaft zufrieden zu sein.
    Abgesehen von dem Punkt mit dem Lesen und Rauchen erkennt Schreiber in diesem interessanten Bericht nicht den Sutton wieder, der ihm bekannt war. Was nicht heißen muss, dass der Bericht ungenau ist. Am Ende bleiben von Sutton, oder überhaupt von uns allen, doch nur interessante Berichte.
    Letzte Woche besuchte Schreiber die Farm Colony, Attica, Sing Sing und Eastern State, wo er in einer Zelle wie der von Sutton belegten einen klaustrophobischen Anfall erlitt. Eastern State ist heute ein nationales historisches Denkmal, und obwohl der Kurator nicht genau wusste, welche Zelle Willies war, glichen sie sich doch alle, waren alle gleich dreckig und unmenschlich. Schreiber nahm eine neue Einschätzung von Suttons Stehvermögen mit und fragte sich mehr denn je, weshalb Sutton nicht in der Lage war, seine guten
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