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Kleiner Werwolf - Funke, C: Kleiner Werwolf

Kleiner Werwolf - Funke, C: Kleiner Werwolf

Titel: Kleiner Werwolf - Funke, C: Kleiner Werwolf
Autoren: Cornelia Funke
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sagte sie, »und wenn du noch sosehr deine Zähne fletschst. Auch Wölfe fressen ihre Freunde nicht, weißt du. Ich häng dir jetzt dieses Ding um, weil ich in der Schule nicht neben einem Wolf sitzen kann. Mit einem Wolf kann ich nicht Karten spielen. Oder deinen großen Bruder ärgern. Oder ins Kino gehen und mir blöde Filme angucken. Streck mir jetzt endlich deinen Kopf hin. Bevor ich von diesem scheußlichen Dach runterfalle.«
    Immer näher rückte sie an Motte heran.
    Er rührte sich nicht.
    Lina streckte die Hand aus und hängte ihm das Amulett um den Hals.
    Es brannte. Es brannte wie Feuer.
    »Nein!«, schrie Motte. »Nimm es weg!«
    Mit einem Satz sprang er auf die Füße, stand wankend auf dem First und zerrte an dem Amulett.
    »Vorsicht!«, schrie Lina und versuchte, seine Beine festzuhalten. Aber Motte stieß sie weg. Er zerriss mit den Krallen die Kette, das Amulett rutschte das Dach hinunter – und verschwand in der Tiefe.
    »O nein!«, stöhnte Lina. Verzweifelt sah sie Motte an. »Wie konntest du das tun?«, schrie sie. »Was soll dich denn jetzt noch schützen?«
    Schluchzend presste sie die Hände vors Gesicht. »Jetzt wirst du ein Wolf. Von dir wird nichts übrig bleiben, gar nichts!«
    Motte stand da, eine kleine, haarige Gestalt, und guckte auf sie herab. Der Mond malte seinen Schatten aufs Dach.
    »Ich konnte nicht anders«, flüsterte er. »Wirklich, Lina.«
    Zitternd kauerte er sich auf den Dachfirst und wartete auf das, was Lina gesagt hatte: dass Motte verschwand und nur noch ein Wolf übrig blieb. Ein Wolf, der vielleicht nicht mal mehr wusste, wer Lina war.
    Plötzlich legte sich ein dunkler Schleier über seine Augen. Verwirrt sah er hinauf zum Himmel. Der Mond leuchtete hell herab, aber der Nachthimmel war schwarz. Kohlrabenschwarz, wie Motte ihn seit Langem nicht mehr gesehen hatte.
    »Lina!«, flüsterte Motte. »Es ist wieder dunkel.«
    »Wie? Was redest du da?« Lina hielt sich immer noch die Hände vors Gesicht. »Natürlich ist es dunkel. Es ist mitten in der Nacht.«
    »Ach was, du verstehst mich nicht!«, rief Motte aufgeregt. »Für Wölfe ist es niemals richtig dunkel.«
    Lina nahm die Hände vom Gesicht und sah Motte an. Ungläubig strich sie ihm über die Backen. »Dein Fell verschwindet«, flüsterte sie. »Wie ist das möglich?«
    Motte hob seine Hände. Lina hatte recht, der Wolfspelz war weg. Wie fortgewischt. Frierend rieb Motte sich die nackten Arme. Ohne Pelz war es abscheulich kalt hier oben auf dem Dach.

    »Was ist mit dem Hören und dem Riechen?«, fragte Lina. Schnuppernd sog Motte die Nachtluft ein. »Riechen tue ich immer noch wölfisch gut. Und hören auch.«
    »Aber du siehst nicht mehr aus wie ein Wolf!«, rief Lina. »Wie …« Sie stutzte, beugte sich vor und strich über Mottes Brust. Auch dort war das Fell verschwunden, bis auf einen feinen Flaum. Aber da, wo das Amulett gehangen hatte, war ein Abdruck der Wolfsfratze auf der Haut zurückgeblieben.
    »Es hat also doch geholfen!«, flüsterte Lina. Sie lachte.
    »Was hat geholfen?«, fragte Motte und schielte auf seine Brust hinunter. Allerdings konnte er kaum etwas erkennen in der Dunkelheit.
    »Das Amulett. Es hat sich eingebrannt in dein Fell!« Lina nahm Mottes Finger und legte ihn auf die Stelle. Ganz warm war seine Haut dort. Angenehm warm.
    »Du meinst, wie eine Tätowierung?«, fragte Motte.
    »Ja. Deshalb hast du dich nicht verwandelt. Du bist jetzt auf ewige Zeiten werwolfgeschützt.«
    Zweifelnd strich Motte über das kleine Mal. »Er ist aber noch da«, sagte er leise.
    Ungläubig sah Lina ihn an. »Der Wolf?«
    Motte nickte. Er konnte ihn fühlen. Ganz tief in sich drin. Nicht mehr so hungrig, etwas schläfrig, aber er war noch da. Motte fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Es waren wieder Menschenzähne, nur ein klitzekleines bisschen spitzer.
    »Ich glaube, du hast recht.« Lina beugte sich vor und sah ihm in die Augen. »Deine Augen sind zwar nicht mehr gelb, aber irgendwie … anders als früher.«
    »Macht doch nichts.«Motte sprang auf und balancierte mit nackten Füßen über den Dachfirst. »Ich fühl mich wunderbar!«, rief er. »Wunderbar wölfisch gut und ich hab keinen Appetit mehr auf Meerschweinchen.«
    Dann legte er den Kopf in den Nacken und heulte den Mond an. So wild und rau wie eine Stunde zuvor klang es nicht mehr – aber gut hörte es sich immer noch an.

Cornelia Funke
ist die international erfolgreichste und bekannteste deutsche Kinderbuchautorin. Heute lebt
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