Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe
Autoren: Silke Schuetze
Vom Netzwerk:
Regenwurm, aber Rudi (oder Helmut?) behauptete steif und fest, es wäre ein Kranz.
    »Ein Kranz?« Ich starrte perplex auf das geschwungene Etwas, das sich im stumpfen Silberschein auf meiner Handfläche kräuselte.
    »Ein Kranz!«, bestätigte auch Helmut (oder Rudi?) mit Überzeugung in der Stimme.
    »Und was soll das bedeuten? Werde ich in einem Blumenladen jobben?«
    »Nein, nein!« Beide blättern hastig in ihren abgegriffenen Auflösungsheften, die ich schon seit meiner Kindheit kenne. Darin sammeln sie seit ihrer Zeit bei den Pfadfindern nicht nur handschriftliche Notizen zur Bedeutung und Durchführung des Bleigießens, sondern auch Zeitungsartikel zum Thema. Schon als Kind keimte in mir die Vermutung auf, dass sich die beiden überhaupt nicht für das gesammelte Wissen interessierten, sondern sich die Auslegung der unter Zischen ins Wasser gegossenen Hoffnungen schlicht ausdachten. Niemals durfte ich einen Blick in die Hefte werfen – und so ist es auch heute.
    Mit einem »Kannst meine Schrift sowieso nicht entziffern!« werde ich verscheucht, als ich nach Rudis Heft greife, um selbst nachzulesen.
    »Also, was bedeutet ein Kranz?«
    Die beiden wechseln bedeutungsvolle Blicke. Dann sagen sie gleichzeitig: »Eine Hochzeit!«
    Papa, der in der Speisekammer hantiert, streckt seinen Kopf kampflustig aus dem offenen Kragen seines weißen Hemdes. »So ein Unsinn! Wen sollte Franzi denn heiraten? Etwa ihren Geschiedenen? Das habt ihr euch doch ausgedacht!«
    Rudi und Helmut sind empört, widersprechen heftig, und im Nu ist eine erregte Diskussion unter den drei alten Freunden im Gange.
    Ich nutze den Moment, um aus der Küche zu schlüpfen und nach oben ins Gästezimmer zu schleichen, wo Amélie und Lisa-Marie seit einer halben Stunde schlafen.
    Als ich die Treppe hinaufgehe, sehe ich Dieter und seine Frau auf der improvisierten Tanzfläche im Flur herumwirbeln, wobei sich Dieter als bejubelter Luftgitarrenspieler profiliert. Es ist kaum zu glauben: Während unten die Party tobt, schlafen die beiden Mädchen in ihren Bettchen und lassen sich vom rhythmischen Wummern der Musik nicht stören.
    Die beiden sind nicht allein geblieben, wie ich jetzt bemerke: Ein kleiner Junge liegt in seinem Kindersitz vor Bims Bett und schläft genauso tief. Ich bleibe einige Minuten lang im schummerigen Zimmer, lausche dem ruhigen Atmen der Kinder und bewundere den sanften Schwung ihrer Wimpern, die seidig auf den runden, weichen Wangen liegen.
    Schlafende Kinder sind Glücksboten. Sie erfüllen uns mit Rührung und Demut. Schlafende Kinder zu beobachten ist mit einem Kirchenbesuch vergleichbar: Unwillkürlich geht man auf Zehenspitzen – auch innerlich.

    Unten steigt die Stimmung weiter. Mein bescheiden geplantes Abendessen ist zur ausgelassenen Party mutiert. Ich lehne mich an den Türrahmen zwischen Korridor und Wohnzimmer, wo ich einen guten Überblick über das gesamte Untergeschoss habe.
    Britta kugelt im Spielzimmer mit einer Handvoll größerer Kinder im »Twister«-Spiel herum. Ich erkenne Tim, den Sohn von Jella, der Wirtin vom italienischen Imbiss »Lo Spuntino«. Jellas Freund Robin hat seinen Sohn Lasse mitgebracht. Auf der Tanzfläche liefern sich Dieter und Koch Stefan ein heißes Bewegungsduell.
    Papa hat seinen Streit mit den Unvermeidlichen beendet. Er sitzt jetzt, ins Gespräch vertieft, mit Hedi in den Wohnzimmersesseln vor dem Fenster. Mit ihren wachen dunklen Augen, dem rundgeföhnten Pagenschnitt und dem freundlichen Lächeln erinnert mich Hedi an ein Stiefmütterchen. Sie nennt Papa unbeirrt »Herr Schneider«, obwohl er sie ständig auffordert, seinen Vornamen zu gebrauchen. Mir gefällt, wie Hedi »Herr Schneider« sagt. Es klingt zugetan und persönlich.
    Den Kamin haben wir mit einem Gitter so gut wie möglich gesichert, um neugierigen Kindern Verbrennungen zu ersparen. Davor sitzt die versammelte Familie Pepovic und brutzelt Marshmallows über den Flammen. Sie werden dabei ehrfurchtsvoll von zwei kleinen blonden Jungen beobachtet, die wie Miniaturausgaben von Koch Stefan aussehen.
    Das ist mein Leben, meine Familie, mein Zuhause. Meine Freunde – Alte und Junge, Familien und Singles, Männer und Frauen. Und fehlt mir jemand? Natürlich Andreas. Und ich vermisse Lilli. Wie gut würde sie hierherpassen! Sie wäre die Erste und die Letzte auf der Tanzfläche, ihr Lachen würde am lautesten durch die Räume hallen. Sie fehlt, aber ich weiß, wie sehr sie diesen Abend genossen hätte. Und wie froh sie wäre,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher