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Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters

Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters

Titel: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Autoren: Karl Brunner
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den Nerven, das Herz mit den Arterien, die Leber mit den Venen – ohne diese drei kann der Mensch nicht leben – und die Geschlechtsorgane, ohne die ein Einzelner zwar leben kann, aber nicht die Menschheit als Ganzes.
    Die Persönlichkeit wird zumeist in Herz, Seele bzw. Willen und Verstand aufgefächert. Das Herz gilt als Sitz des Verstehens, die Seele wird mit dem Willen verbunden, der die Sinne zügeln soll, und der Verstand beruht auf dem Erinnern, der
memoria.
Das biblische Bild von Herz und Nieren, die Gott am Menschen prüft (Ps 7, 10 und 26, 2), ist weit verbreitet. Die Nieren galten als Ausgangsort der Körpersäfte (vgl. S. 17) und waren in manchen Vorstellungen Sitz des Denkens und Empfindens, aber auch Orte des Leidens.
    Die körperlichen Unterschiede der Geschlechter hat man zumeist stark vereinfacht, unter anderem bis hin zu einem Ein-Geschlechter-Modell (Laqueur): Was der Mann außen hat, habe die Frau innen. Die Menstruation galt als Reinigung, der Mann muss stattdessen schwitzen. Frauen galten nach der Säftelehre als eher «feucht», Männer als eher «trocken».
    Die Funktion des weiblichen Eis bei Säugetieren und damit auch bei Menschen wurde erst 1828 von Karl Ernst Baer entdeckt. Bis dahin stellte man sich die Befruchtung nach dem Modell der Aussaat vor: Der männliche Samen werde in den Leib der Frau wie in einen Acker gelegt und bekomme von ihr das Fleisch. Diese Denkfigur legitimierte scheinbar die Überbetonung der männlichen Abstammungslinien. Um «aufzugehen», benötigte der Samen die nötige Feuchte, d.h., die Frau musste bei der Vereinigung Lust empfinden. Das mag auf den ersten Blick positiv klingen, hatte aber auch schreckliche Konsequenzen, die bis ins 19. Jahrhundert nachweisbar sind: Eine Frau, die bei einer Vergewaltigung empfangen hatte, habe dabei Lust empfunden, glaubteman und verachtete dafür das Opfer noch. Auch in der Theologie kam die Samen-Metapher zur Anwendung: Jesus, meint z.B. Hildegard von Bingen († 1179) ganz im Sinne der herrschenden Lehre, bekam das Fleisch von seiner Mutter, das Wesen aber hatte er vom Heiligen Geist.
    Dennoch wurde die Schuld für Unfruchtbarkeit meistens den Frauen angelastet. Der «Samen» des Mannes – dessen Zusammensetzung man nicht kannte – war ja merkbar geflossen. Dass auch er unfruchtbar sein könnte, zog man kaum in Betracht. Entgegen dem kirchlichen Scheidungsverbot versuchten daher Adelige und Herrscher bis ins 12. Jahrhundert, sich von vermeintlich unfruchtbaren Frauen zu trennen. Wir kennen einige Fälle, bei denen dann die Frau mit einem anderen Mann durchaus Kinder bekam.
Körpermetaphern
    Zahlreiche politische Metaphern bedienten sich des Konzeptes, das man von der Natur des Körpers hatte. Die berühmten antiken Beispiele wirkten im Mittelalter nach. Menenius Agrippa verglich, so der Historiograph Livius († 17 n.), in einer Rede 494 v. Chr. den Staat mit einem Körper, der nur funktionieren könne, wenn alle seine Teile, die arbeitenden Glieder wie der verarbeitende Magen, zusammenspielten: So seien auch die verschiedenen Stände aufeinander angewiesen (II 32). Ähnlich verglich der Apostel Paulus die Kirche mit einem Leib, dessen Glieder «einträchtig füreinander sorgen» sollten (1 Kor 12, 12–30). Nicht alle könnten Apostel, Propheten oder Lehrer sein. Diese Bilder begründeten eine Tradition, in der das jeweils herrschende politische System als «natürlich» legitimiert wird; der jeweilige Herr ist dann der
dominus naturalis.
    Der Blick auf die Natur war wiederum stark von den politischen Vorstellungen geprägt. Nach antikem Vorbild glaubte man beispielsweise, das Bienenvolk werde von einem König regiert. Obwohldie Imkerei zu einem der ältesten nachweisbaren Gewerbe zählt, hat man der Bezeichnung «König» den Vorzug gegeben, ohne das Geschlecht zu untersuchen. Bis heute heißt die Bienenkönigin in der Imkersprache «der» Weisel.
    Im erwähnten Korintherbrief findet sich auch die berühmte Aussage, der Mann sei das Haupt der Frau (11, 3). Wie so oft, muss man den ganzen Satz lesen, um den Sinn zu verstehen: «Ihr aber sollt wissen, dass Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi.» Im letzten Satzteil liegt die Lösung verborgen, denn Gott und sein Sohn sind wesensgleich, dementsprechend auch Mann und Frau. Das wurde zu gunsten der Legitimation einer «natürlichen» Herrschaft der Männer über die Frauen gerne übersehen. Die Bibel wurde von
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