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Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters

Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters

Titel: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Autoren: Karl Brunner
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Zügel gehalten werden, reißen sie verhängnisvoll aus. Menschen in exzessiver Trauer, denen wir in der Dichtung immer wieder begegnen, sind völlig handlungsunfähig. Menschen im Bann der Minne sind krank. Was herauskommt, wenn man die Zügel fahren lässt, zeigen die klassischen Stoffe der Dichter.
    Entsagung und Askese (vgl. S. 117) erscheinen zuerst als negative Kategorien. Das Gegenteil ist angestrebt: Menschen machen sich frei von ihren weltbezogenen Gefühlen. Durch Übung und Eifer –
studium
– möge man nicht zu einer Vielwisserei, sondern zu einer Bescheidenheit, Einfachheit –
simplicitas
– kommen. Das ist aber nicht schon das Ziel, sondern erst ein Schritt darauf zu. Er führt zwar im Wesentlichen ins Jenseits, in die himmlische Freude, wird aber für manche im Voraus empfindbar in einer heiligen Ekstase.
    Der Heilige Ambrosius († 397) mahnt im Zusammenhang mit Emotionen, kein Arzt sage, du sollst nicht fiebern, sondern bemühesich, das Fieber zu mäßigen. So liegt wie in der Säftelehre die Mitte nicht im Wegfall der Emotionen, sondern im Ausgleich der Spannungen. Feuer und Wasser, Luft und Erde liegen genauso in Spannung wie Hoffnung und Angst, Freude und Schmerz, Zorn und Liebe etc. Die Mitte ist nicht ein Zusammenbruch, sondern ein dialektisches «Aufheben» der Gegensätze in die höhere Ebene des rechten Maßes.
Arbeit
    In einer ähnlichen Spannung zwischen der täglichen Mühe und dem Weg zum Heil liegt auch der mittelalterliche Begriff von Arbeit. Er hat sich, wenigstens in der Oberschicht, gegenüber der Antike grundsätzlich verändert. Einen positiven Begriff von Muße wie das lateinische
otium
gibt es nicht mehr. Das galt als steril;
labor,
Arbeit oder Mühe, hingegen als fruchtbringend, ja mehr noch: Sie erst stellte die gottgewollte Ordnung wieder her.
    Auch Studium und Kontemplation galten als Arbeit, ja als Kampf der
milites Christi,
der Ritter des Herrn. Die Mahnung Jesu, sich nicht so sehr um das tägliche Leben zu sorgen (Mt 6, 25), schien nicht mehr aktuell. Benedikt von Nursia († um 550) stellte in seiner Mönchsregel fest: Müßiggang ist der Seele Feind (48, 1). Der Spruch
ora et labora,
bete und arbeite, stammt zwar nicht von ihm, fasst aber seine Lehre gültig zusammen. Den Mönchen und Nonnen war klar, dass sie sich der Kontemplation nur dann widmen konnten, wenn sie sich vorher um die Erfordernisse des Alltags gekümmert hatten. «Wenn es die Ortsverhältnisse oder die Armut erfordern, dass sie [die Mönche] die Ernte selber einbringen, sollen sie nicht traurig sein» (48, 7). Das gilt für alle Tätigkeiten, die anfallen können: sei es, ein Haus zu bauen, eine Mühle anzulegen oder Holz zu schneiden.
    Auch für Adelige, ja sogar für Helden, galt es,
arebeit
zu tun: Wer zuhause hinter dem Ofen oder im Bett seiner Frau zu langeverweilte, musste mit dem Vorwurf rechnen,
daz er sich sô gar verlac, daz niemen dehein ahte ûf in gehaben mahte:
dass er sich so sehr «verlag», dass niemand mehr Achtung vor ihm empfand (Hartmann, Erec 2971–73). Schweiß und Schmutz und wohl auch die dabei unvermeidlichen Gerüche waren nicht grundsätzlich negativ konnotiert. Die Wohlhabenderen konnten sich derer immerhin entledigen, im Zuber oder in den Bädern. Aber durch Spenden wurde selbst den Armen zu heiligen Zeiten ein Bad ermöglicht.
    Zwar ist nicht jede Arbeit positiv belegt: Am kalten Meeresstrand Wäsche zu waschen ist für eine Prinzessin selbstverständlich demütigend (Kudrun, vgl. S. 80), und ein Küchenjunge hat ein schweres Leben. Aber auch schweißtreibende und mühevolle Arbeit, besonders für Männer, war nicht nur ein unvermeidbarer Bestandteil des irdischen Lebens, sondern im Prinzip akzeptierte Grundlage eines jeden Erfolgs. Damit wird einer der Bausteine für den «europäischen Sonderweg» sichtbar, wie sie im Mittelalter zugrunde gelegt wurden. Wir werden noch weitere finden (vgl. z.B. S. 57).
Lebens-Mittel
    In einer Welt, die keine direkt eingreifenden Medikamente wie Antibiotika kennt, ist die Diätetik besonders wichtig, und die ist im täglichen Leben ganz wesentlich Frauensache, auch wenn viele Männer darüber geschrieben haben. Gesundheit beginnt in Küche und Keller. Für eine gezielte Vorratshaltung sind entsprechende Kenntnisse notwendig. Auch für Wohlhabende steht nicht alles, was man wünscht, zu jeder Zeit zur Verfügung. Den Winter zu überleben, war alles andere als selbstverständlich, der Frühling eine Erlösung. Das Gefühl der
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