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Klassenziel (German Edition)

Klassenziel (German Edition)

Titel: Klassenziel (German Edition)
Autoren: T. A. Wegberg
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nicht besonders toll aus. Ich meine, er war mein Bruder, und natürlich liebte ich ihn so, wie er war. Im Kindergarten war ich neidisch auf seine langen Beine, und später gab es mal eine kurze Phase, wo ich gerne dunkelhaarig gewesen wäre wie er. Aber im Großen und Ganzen war mir immer klar, dass Nick optisch einfach nicht der Burner war.
    In der Pubertät wurde das noch schlimmer. Irgendwie passten seine Einzelteile überhaupt nicht richtig zueinander und waren alle zu lang oder zu dünn. Sein Hals sah aus wie bei einem Hühnervogel, und er hatte Pickel, und dann immer diese kurzgeschorenen Haare.
    Nicht dass ich jetzt falsch verstanden werde. Ich bin nicht eitel. Na ja, nicht sehr eitel jedenfalls. Immerhin dusche ich jeden Morgen und wasche mir die Haare. Wenn die so lang sind, muss man das, sonst sieht man aus wie ein Penner. Außerdem hab ich immer viel Sport gemacht und bin also einigermaßen durchtrainiert.
    Manchmal wollte ich Dominik ein bisschen auf die Sprünge helfen. «Bei New Yorker gibt’s T-Shirts für vier fünfundneunzig! Soll ich dir mal welche mitbringen?»
    «Wenn das so kreischbunte Tuntenfähnchen sind wie das, was du anhast – nein danke.»
    «Du könntest doch mal versuchen, dir die Haare wachsen zu lassen. Ich glaub, das würde dir stehen.»
    «Und dann jeden Morgen ’ne halbe Stunde föhnen, was? Ey, ich hab echt was Besseres zu tun.»
    Dominik kriegte es wirklich hin, dass ich mir nach jedem meiner gutgemeinten Vorschläge vorkam wie ein Igel, der versucht, eine Haarbürste zu poppen. Ahnungslos, naiv, lächerlich. Ich traute mich dann auch immer seltener, was zu sagen.

[zur Inhaltsübersicht]
    5
    V öllig unbehelligt gehe ich die Soldauer Allee runter bis zur Heerstraße. In dieser Ecke ist Berlin so verschlafen wie ein Dorf. Der erste Besuch bei meinem Vater nach der Trennung war eine ziemliche Ernüchterung gewesen. Bis dahin hatte ich angenommen, dass er in so einem graffitibemalten, sanierungsbedürftigen Altbau mit vier Etagen, Kohleheizung und ausgetretenen Stiegen wohnt.
    Und dann das hier: ein unauffälliges, kleines Häuschen aus den Dreißigern mit verträumtem Vorgarten an einer Straße, auf der man picknicken kann. Weit und breit sind weder vermummte Autonome noch bärtige Independent-Musiker zu sehen. Bestenfalls gehen ein paar Rentner in Gore-Tex-Westen mit ihren Dackeln Gassi.

    D ominik war sogar noch enttäuschter als ich. Er wollte gar nicht erst aus dem Auto aussteigen, mit dem mein Vater uns vom Bahnhof abgeholt hatte. «Das ist doch nicht dein Ernst», sagte er, als hätte Papa sich diese Wohnadresse zu seiner Bestrafung ausgesucht.
    «Tja, tut mir leid – da musst du jetzt durch.»
    «Du hast gesagt, du wohnst in Berlin !», beharrte Nick.
    «Berlin ist groß», erklärte mein Vater geduldig. «Und es sieht nicht überall gleich aus.»
    « Hier sieht es jedenfalls aus wie in einem Provinzkaff», murmelte Nick störrisch und ließ sich mit dem Aussteigen extra viel Zeit.
    Ich weiß nicht genau, was er erwartet hatte. Wir lebten in Viersen, das ist nicht gerade der Nabel, aber auch nicht der Arsch der Welt. Natürlich waren wir aufgeregt gewesen. Berlin war hip und angesagt, alle unsere Lieblingsbands lebten hier, und wenn in den Nachrichten irgendwas Interessantes gezeigt wurde, fand es in Berlin statt. Aber mir ging es trotzdem in erster Linie darum, meinen Vater wiederzusehen, der seit drei Monaten nicht mehr bei uns wohnte.
    Ich bin ziemlich sicher, dass Nick ihn genauso vermisste wie ich, aber er war so daran gewöhnt, den Coolen zu spielen, dass er das niemals zugegeben hätte. Stattdessen zog er jetzt diese Show ab, und ich musste wieder für gute Stimmung sorgen. Als Ausgleich für seine Pampigkeit musste ich doppelt so nett sein. Das war irgendwie so ein festes Muster bei uns geworden. «Schönes Haus», sagte ich also bewundernd, als mein Vater das Gartentörchen öffnete.
    «Danke.» Er sah gleich ein bisschen fröhlicher aus. Mission erfüllt.

[zur Inhaltsübersicht]
    6
    A us der S-Bahn-Station Heerstraße kommen ziemlich viele Jugendliche raus. Wahrscheinlich gehen die alle auf dieselbe Schule wie ich. Für sie ist das ein ganz normaler Montag Anfang September, und das macht mich neidisch. Die meisten bilden kleine und größere Grüppchen, nur ganz wenige warten alleine an der Ampel. Einige gucken neugierig zu mir rüber.
    Leider schaffe ich es nicht, in solchen Situationen gelassen zu bleiben. In mir kriecht die Angst hoch. Was ist, wenn mich
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