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Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke

Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke

Titel: Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke
Autoren: Sue Grafton
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Ein künstlicher Baum stand auf der anderen Seite der Halle, groß und skelettähnlich und mit bunten Ornamenten behängt. Wie es schien, waren keinerlei Lichter an dem Baum befestigt, was ihm ein lebloses Aussehen verlieh und die Einheitlichkeit der Aste, die in vorgebohrte Löcher im Aluminiumstamm gesteckt worden waren, noch hervorhob. Die Wirkung war deprimierend. Nach der Information, die ich erhalten hatte, betrug der Umsatz von Wood/Warren jährlich über fünfzehn Millionen Dollar. Warum hatten sie sich nur keine echte Tanne geleistet?
    Heather schenkte mir ein verlegenes Lächeln und fing an zu essen. Das Anschlagbrett hinter ihr war mit Girlanden aus Lametta geschmückt und mit Schnappschüssen der Besitzerfamilie und der Belegschaft bedeckt. F-R-Ö-H-L-I-C-H-E W-E-I-H-N-A-C-H-T-E-N stand in glänzenden, gekauften Silberbuchstaben darunter.
    »Darf ich mir das mal ansehen?« fragte ich und deutete auf die Collage.
    Sie hatte inzwischen den Mund voll Croissant, brachte aber dennoch eine Zustimmung zustande, indem sie eine Hand vor den Mund hielt, um mir den Anblick des gekauten Essens zu ersparen. »Nur zu.«
    Die meisten Fotos zeigten Angestellte der Firma, von denen ich einige schon gesehen hatte. Auch Heather war auf einem der Fotos, ihr blondes Haar war viel kürzer, ihr Gesicht wies noch den Babyspeck auf. Die Spangen an ihren Zähnen repräsentierten wohl das letzte Überbleibsel ihrer Teenager-Zeit. Wood/Warren mußte sie gleich nach der High-School angestellt haben. Auf einem Foto standen vier Knaben in den Overalls der Fabrik als lockere Gruppe auf der Treppe. Einige Fotos wirkten steif und gestellt, aber größtenteils drückten sie so etwas wie guten Willen aus, den ich im Augenblick allerdings nicht feststeilen konnte. Linden »Woody« Wood, der Gründer, war zwei Jahre zuvor gestorben, und ich fragte mich, ob ein Teil des Frohsinns diese Firma mit seinem Hinscheiden wohl verlassen hatte.
    Die Woods selber bildeten das Mittelstück. Es handelte sich um ein Porträt, das im Heim der Familie aufgenommen zu sein schien. Linden stand da, eine Hand auf der Schulter seiner Gemahlin. Die fünf erwachsenen Kinder waren um ihre Eltern gruppiert. Lance hatte ich nie zuvor gesehen, aber ich kannte Ash, weil ich mit ihr auf der High-School gewesen war. Olive, die ein Jahr älter war, hatte die Santa Teresa High-School kurz besucht, war dann in ihrem letzten Schuljahr aber in ein Internat geschickt worden. Wahrscheinlich hatte das mit einem kleinen Skandal zu tun, aber ich war mir nicht sicher, worum es damals gegangen war. Die älteste der fünf war Ebony, die inzwischen fast vierzig sein mußte. Ich erinnerte mich, gehört zu haben, daß sie irgendeinen reichen Playboy geheiratet hatte und jetzt in Frankreich lebte. Der Jüngste war ein Sohn namens Bass, nicht ganz dreißig, verantwortungslos, rücksichtslos, als Schauspieler ein Versager und als Musiker ohne Talent. Das letzte, was ich gehört hatte, war, daß er jetzt in New York lebte. Acht Jahre zuvor hatte ich ihn durch meinen Exmann Daniel, einen Jazzpianisten, flüchtig kennengelernt. Bass war das schwarze Schaf der Familie. Welche Geschichte Lance hatte, wußte ich nicht.
    Als ich ihm Sechsundsechzig Minuten später an seinem Schreibtisch gegenübersaß, begriff ich allmählich. Lance war um 9.30 Uhr eingetroffen. Die Empfangsdame sagte ihm, wer ich war. Er stellte sich vor, und wir schüttelten uns die Hände. Er erklärte, er hätte noch einen kurzen Anruf zu erledigen und käme dann sofort zu mir. Ich sagte »Schön«, und dann sah ich nichts mehr von ihm bis 10.16 Uhr. Da hatte er inzwischen sein Jackett abgelegt, den Schlips gelockert und den obersten Knopf an seinem Hemd geöffnet. Er saß, die Füße auf dem Schreibtisch, und sein Gesicht glänzte ölig im fluoreszierenden Neonlicht. Er mußte Ende Dreißig sein, wirkte aber älter. Die Kombination aus Jähzorn und Unzufriedenheit hatte Falten um seinen Mund eingegraben, hatte das klare Braun seiner Augen verdorben und den Eindruck eines Mannes hinterlassen, der vom Schicksal hart gefordert wird. Sein Haar war hellbraun, am Scheitel dünner, und er hatte es streng nach hinten gekämmt. Ich hielt die Sache mit dem Telefonat für Quatsch. Mir kam er wie ein Mann vor, der sich damit wichtig machen muß, daß er andere Leute warten läßt. Sein Lächeln war selbstzufrieden, und die Energie, die er ausstrahlte, war unterlegt mit Spannung.
    »Entschuldigen Sie die Verspätung«, begann er. »Was
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