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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman
Autoren: Paul Grossman
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breiten Lippen. Polnische Juden mit hellblauen Augen. Laut lachende rumänische Juden, die mit Juwelen behängt waren. Und Jeckes , so wie ich selbst, dachte Kraus, deutsche Juden, pedantisch und anspruchsvoll, die ihren Tee nicht aus Gläsern, sondern aus chinesischem Porzellan nippten.
    Er überzeugte sich mit einem kurzen Blick davon, dass sein Sohn noch nicht da war, setzte sich an einen Ecktisch und versuchte, sich zu entspannen. Aber er konnte die hässlichen Erinnerungen an die Köhler-Geschwister nicht verscheuchen. Erst letzten Monat hatte die Presse in Tel Aviv die Zeugenaussagen bei den Vorverhandlungen für die Tribunale abgedruckt, die gegen die Naziärzte in Nürnberg vorbereitet wurden. Darin hatte er zu seinem Entsetzen Informationen über das gruselige Schicksal von Ilses älterer Schwester Magda gefunden. Deren Schicksal ironischerweise ihr perverser Geschäftspartner, der wahnsinnige Dr. von Hessler, geteilt hatte.
    Beide waren in der Psychiatrie des Krankenhauses von Berlin-Buch gelandet, Station sechs, für die kriminellen Wahnsinnigen. Von Hessler war es, wenig überraschend, Mitte der dreißiger Jahre gelungen, sich aus der geschlossenen Anstalt herauszureden. Er hätte es sogar fast geschafft, seinen Turm des Schweigens neu aufzubauen. Denn etliche Leute des neuen Regimes unterstützten seine Arbeit nachdrücklich und wollten, dass er sie in einem weit größeren Maßstab fortsetzte. Doch dereinäugige Doktor war offenbar nicht in der Lage gewesen, den Mund zu halten, was die abwegige Rassentheorie der Nazis anging, so dass er bei Ausbruch des Krieges wieder in die Psychiatrie eingeliefert wurde.
    Im Winter 1940 nahmen alle Insassen von Station sechs, Berlin-Buch, an der sogenannten Aktion T4 für die Geisteskranken teil. Patienten, die man als »lebensunwert« einstufte, wurden in als Duschen getarnte Räume geführt und dort mit Kohlenmonoxid vergiftet. Genau die Art von billigem, sauberen Tod, die von Hessler selbst so begeistert für seine menschlichen Versuchskaninchen vorgesehen hatte, war ihm schließlich selbst zuteil geworden. So wie später Millionen anderer Menschen.
    Kraus warf einen Blick auf seine Uhr. Er war zwar ungeduldig, machte sich aber keine Sorgen wegen Zvis Verspätung. Er hatte mittlerweile gelernt, dass im Nahen Osten die Uhren anders tickten. Er trank einen Schluck Tee und dachte daran, wie lang sich jede einzelne Sekunde dieser dreiundzwanzig Stunden angefühlt hatte, in denen von Hessler seinen Sohn in der Gewalt gehabt hatte. Der geniale Wissenschaftler mit seinem zerstörten Stirnlappen hatte zumindest den Erinnerungsverlust korrekt vorausgesagt: Bis zum heutigen Tag konnte sich Erich an kein Detail seiner Entführung erinnern. Dafür jedoch hatte er niemals vergessen, was die Winkelmanns getan hatten, damals an jenem Morgen auf dem Balkon. Das hatte für sie den Anfang vom Ende ihres Lebens in Deutschland markiert. Für sie alle.
    Während die Ventilatoren sich langsam drehten, glitten die freundlichen, hellen Augen von Dr. Weiß durch Kraus’ Erinnerung. In jenen letzten Jahren vor der Machtübernahme durch die Nazis hatte der Vizepräsident der Berliner Polizei Joseph Goebbels achtundzwanzig Mal wegen Verleumdung vor Gerichtgezerrt und jeden Fall gewonnen. Es hatte nichts gefruchtet. Goebbels wurde einer der mächtigsten Männer im Dritten Reich, und Weiß, eine wahrhaft große Gestalt in der Geschichte der deutschen Polizei, sah sich genötigt, aus dem Land zu fliehen, um sein blankes Leben zu retten. Er hatte sich in ein unwürdiges und rechtloses Exil nach England geflüchtet und war der Vergessenheit anheimgefallen.
    »Slicha. Inspektor Kraus, nehme ich an?«
    Eine schlanke Frau Mitte dreißig stand plötzlich vor Kraus und umklammerte ihre Handtasche. Ihr dunkles Haar wurde von einem gelben Kopftuch gebändigt.
    »Der Oberkellner bittet mich, Ihnen auszurichten, dass Zvi angerufen hat.« Sie runzelte mitfühlend die Stirn. »Es tut mir leid. Er schafft es heute doch nicht.« Sie senkte den Blick, verlegen, wie es schien, weil sie eine so bedauerliche Nachricht überbringen musste.
    »Danke. Sehr freundlich von Ihnen, es mir zu sagen.« Kraus nickte. Er wusste sehr gut, dass sich bei Zvis Arbeit Pläne so schnell änderten wie der Wind. Die Frau ging jedoch nicht. Stattdessen zog sie einen Stuhl heran und setzte sich an seinen Tisch.
    »Deshalb bin ich aber nicht gekommen, Herr Inspektor. Ich habe Ihnen nur die Nachricht von diesem Mann dort
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