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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman
Autoren: Paul Grossman
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durchzuckten ihn Gewissensbisse. Normalerweise erzählte er ihr stets von seinen Fällen, diesmal jedoch hatte er es nicht getan. Wenn es um Kinder ging, regte sie sich zu sehr auf. Also zwinkerte er ihr beruhigend zu und konzentrierte sich wieder auf die Feier.
    Von allen Anwesenden, die Fritz’ Geburtstag feierten, fühlte sich Kraus hier am deplaziertesten; er wäre noch lieber woanders gewesen als die Baroness. Nicht, dass er Fritz nicht mochte. Er würde für seinen alten Kriegskameraden alles tun; schließlich besuchte er ja ihm zum Gefallen sogar mitten in der Woche diese geistlose Revue. Aber Fritz war ein Aristokrat, und so froh Kraus auch über ihre Freundschaft war, historisch betrachtet war sie dennoch nur ein Zufall. Was Kraus problemlos akzeptieren konnte. Es lag auch nicht an Fritz, sondern an dieserArt von Unterhaltung; diese perverse Melange aus Zucker und Exkrementen ging Kraus unter die Haut. Nicht etwa, weil er ein Gesetzesvertreter war. Es gab keine Gesetze gegen ordinären Tingeltangel, zumal wenn er veranstaltet wurde, um ein Waisenhaus zu unterstützen. Es ging ihm einfach nur gegen den Strich.
    Nach allem, was er an diesem Morgen gesehen hatte.
    Der unaufhörliche Wolkenbruch in der Nacht hatte etwa eine halbe Stunde weiter östlich ein wahres Horrorszenario hochgespült, draußen, im industriellen Lichtenberg. Im Untergeschoss einer Baustelle war ein Jutesack hochgespült worden, offenbar wegen einer Verstopfung in der Kanalisation. Als Kraus am Schauplatz eintraf, standen mindestens zwölf Leute um den Sack herum und starrten auf den Inhalt, der herausgeschwemmt worden war. Wahrlich ein Spektakel! Es handelte sich um Knochen. Fast zwei Dutzend, aber nicht einfach willkürlich durcheinandergewürfelt, sondern nach Größe und Form sortiert. Und zusammengebunden zu etwas, das man nur als ... Arrangements bezeichnen konnte. Arm- und Beinknochen, die fast wie Blumenbuketts angeordnet waren. Zehenund Fingerknochen, die mit irgendeinem kräftigen Faden zu so etwas wie ... Schmuckstücken gebunden waren. Kleine Lendenwirbel, in die kleine Löcher gebohrt worden waren. Kraus hatte so etwas noch nie gesehen oder auch nur davon gehört. Nach einer ersten flüchtigen Untersuchung hatte der Rechtsmediziner Dr. Hoffnung erklärt, dass die Knochen höchstwahrscheinlich menschlicher Natur waren und eindeutig keinem Erwachsenen gehört hatten. Nach Größe und Dichte zu urteilen, waren es Knochen von Kindern. Die Form der Beckenknochen ließ Hoffnungs Worten zufolge auf Jungen schließen. Auf insgesamt vier oder fünf verschiedene Jungen.
    Kraus rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
    Als die Schulmeisterin und ihre Schülerinnen sich unter tosendemBeifall verbeugten und der »Lektion gut gelernt« betitelte Sketch endete, klatschte Kraus automatisch mit. Drei Jahre an der Westfront. Sieben bei der Kripo, Berlins überaus fleißiger Kriminalpolizei. Niemand konnte behaupten, er hätte nicht sein gerüttelt Maß an Wahnsinn gesehen. Aber ... Knochenkunst?
    »Die Nächsten, die die Waisenkinder von Berlin unterstützen«, drang die Stimme des Conférenciers durch das Theater, »sind die bestaussehenden und bestausgebildeten Damen der Stadt ...«
    Vierundsechzig wunderschöne Beine steppten in perfekten Reihen über die Bühne.
    »Sie tanzen synkopisch zu einem Stück namens ›Massenproduktion‹ ...«
    Zweiunddreißig geschmeidige Körper in winzigen, schulterfreien Miedern, in weißen Minihöschen und Spitzensöckchen in glitzernden Pumps.
    »Der Admiralspalast präsentiert Ihnen mit großer Freude seine ... Tiller-Girls!«
    »Eins, zwei, drei, los!«, kreischte eine, und alle zweiunddreißig Mädchen begannen eine einstudierte Hommage an moderne Produktionsverfahren. Ihre Reihen formten sich zu drehenden Zahnrädern, pumpenden Kolben, Keilriemen, selbst zu einer gigantischen Schreibmaschine. Sie hoben die Beine, ihre Absätze steppten, und sie bewegten die Schultern in rasend schneller Effizienz, während ihre einzelnen Muskeln alle wie einer arbeiteten. Kein Zeh traute sich, aus der Reihe zu tanzen. Das Publikum johlte vor Begeisterung. Das ist eine Welt, in der sie sich glücklich fühlen können, dachte Kraus. Eine synchrone, eine geordnete Welt. Das Individuum, von der Masse absorbiert und im Gleichschritt. Die Zuschauer jubelten noch lange, nachdem die Tiller-Girls als Diesellokomotive von der Bühne gerauscht waren.
    »Wirklich phantastisch«, meinte Fritz’ Frau Sylvie, deren Zähne weiß
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