Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
strahlten.
    »Welche Präzision«, setzte Vicki mit nahezu glaubwürdiger Aufrichtigkeit hinzu. Kraus wusste, dass sie hundertmal lieber einer Symphonie gelauscht hätte, aber sie wäre niemals so unhöflich gewesen, das auch zu sagen.
    Die Baroness dagegen nahm selbstverständlich auf solche bourgeoisen Empfindlichkeiten keinerlei Rücksicht. »Ein perfekter Haufen von Sie-wissen-schon.« Sie steckte eine weitere Zigarette in ihre Spitze. »Keine Moral. Keine Geschichte. Nur ein großer Eimer von ...«
    »Zufällig bin ich diesmal Ihrer Meinung.« Von Hessler rückte seine Augenklappe zurecht. »Die Revue hält unserer Republik in brutaler Weise einen Spiegel vor. Wie glänzend sie auf der Oberfläche auch sein mag, darunter ist sie völlig zersplittert. Mich überkommt tatsächlich zurzeit auf den Straßen von Berlin immer wieder das Gefühl, dass alles in einem Moment einfach ...« Er breitete ruckartig die Hände aus.
    In der Pause flammten die Lichter im Saal auf. Wie es aussah, gab sich bei der Wohltätigkeitsgala toute le Monde die Ehre. In den Logen drängten sich Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute, deren aufgedonnerte Gemahlinnen aufgeregt miteinander plauderten. Im ersten Rang, wo Kraus saß, wimmelte es von Industriellen und Kaufhausbesitzern, Verlegern, Politikern und Dutzenden von Unterweltbossen, die sich bunt gemischt an den Tischen drängten. Fritz, Cousin dritten Grades des abgesetzten Kaisers und dazu Korrespondent für fünf oder sechs Zeitungen, hatte einen gut platzierten Ecktisch mit Blick auf das Orchester ergattert. Unter ihnen, direkt vor der Hauptbühne, wo die Fotografen Platz für Nahaufnahmen hatten, wimmelte es von Stars. Weltbekannte Dramatiker, Architekten und Künstler: Brecht, Gropius, Klee und Kandinsky. Selbst Albert Einstein war mit seiner Frau erschienen, um das Waisenhaus für Jungenund Mädchen zu unterstützen. Es ging hier vielleicht nicht zu wie im Florenz der Medicis, aber gegen alle Logik und Wahrscheinlichkeit war Berlin, das erst vor einem Jahrzehnt im Krieg bezwungen und anschließend von der großen Inflation heimgesucht worden war, irgendwie als Kulturhauptstadt Europas wieder auferstanden.
    »Dieses Land wird nicht ohne eine feste Hand überleben, die es führt. Glauben Sie mir.« Ein sardonisches Grinsen schien auf den alten, mit Rouge geschminkten Wangen der Baroness zu gefrieren.
    »Ach Quatsch.« Der Blick von Fritz’ blauen Augen zuckte in ihre Richtung. »Deutschland war noch nie besser dran. Die Demokratie hat Wurzeln geschlagen. Die Wirtschaft floriert. Wir haben den höchsten Lebensstandard aller Länder in Europa.«
    »Aber wir genießen keinerlei Respekt, Fritzchen.« Die Ironie troff förmlich aus ihren Worten. »Und was sind wir ohne Respekt?« Eine Welle echter Trauer flog über ihr Gesicht. »Barbaren, mehr nicht. Von Monte Carlo bis nach Moskau ist Berlin zu einem Schlagwort für ... Verkommenheit geworden.«
    Dieses Wort versetzte Kraus wieder zurück nach Lichtenberg, zu den hämmernden Fabriken, den Rauchwolken. Und auf den Boden dieser Baugrube und zu dem Jutesack, in dem sich neben diesen bizarren Knochen auch eine Bibel befunden hatte. Die meisten Seiten waren durch das Wasser unleserlich geworden. Aber etliche Passagen, die immer noch entzifferbar waren, hatte irgendjemand rot umrandet. Eine fiel besonders auf. Aus dem Neuen Testament, Epheser: »... und auch Euch, die ihr tot waret durch Übertretungen und Sünden, in welchen ihr weiland gewandelt habt ... waren auch Kinder des Zorns von Natur.« Selbst wenn er jetzt daran dachte, wurden seine Hände feucht.
    Irgendetwas Düsteres war mit diesem Sack hochgespült worden.
    Düsterer, als er es je hätte fürchten können.
    Von Hesslers Augenklappe schimmerte im Licht der Kristalllüster. »Die Baroness hat recht, fürchte ich. Im Grunde leiden wir Deutsche unter einem entsetzlichen Mangel an Selbstbeherrschung, weshalb wir uns auch so schrecklich nach Ordnung sehnen. Früher oder später wird uns jemand von dieser ganzen Emanzipation emanzipieren müssen.« Er lachte bellend, fast irre über seinen eigenen Scherz.
    Aus dem Orchestergraben ertönte ein Chor von tiefen Trommeln. »Und jetzt ...«, es wurde wieder dunkel im Theater, »... die Frau, deren Name zu einem Symbol für das Zeitalter des Jazz geworden ist ... der Welt berühmteste Bühnenpersönlichkeit ... die unglaublich raffinierte ... schrecklich wilde ... absolut einzigartige ... Josephine Baker!«
    Wie ein tropischer Sturm fegte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher