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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman
Autoren: Paul Grossman
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Hirschschädel geschmückt hatten, war bereits dem Erdboden gleichgemacht. Dort hatte sein Cousin Kurt sein Hochzeitsdinner veranstaltet. Ein legendäres Gestern wurde für ein durchgeplantes Morgen pulverisiert. Als sich Kraus durch die Massen von frühen Einkaufsbummlern den Weg bahnte, bedauerte er nur, dass das Polizeipräsidium nicht ebenfalls auf der Abrissliste gestanden hatte. Dessen abweisende Fassade und hässlicheKuppeln überragten die ganze südöstliche Seite des Alex wie ein gestrandeter Wal. Sechs Stockwerke, 605 Räume; das nach dem Königspalast und dem Reichstag drittgrößte Gebäude in Berlin, dessen ursprünglich blutrote Farbe unter dem jahrzehntealten Ruß kaum noch zu erkennen war. Als er das schwere, schmiedeeiserne Tor von Eingang Sechs erreichte, war er jedoch dankbar, dass er es soweit gebracht hatte. Viele Beamte schafften es niemals, nicht einmal die besten. Selbst nach unzähligen Dienstjahren.
    Kraus fuhr mit dem Aufzug, einem Gitterkäfig aus Messing, hinauf, zusammengepfercht mit einem Dutzend anderer Beamten, die zur Achtuhr-Schicht antraten. Kraus räumte ein, dass er wahrlich nicht der aussichtsreichste Kandidat für die Berliner Polizei gewesen war. Seine Eltern, mochten sie in Frieden ruhen, hätten sich das ganz gewiss niemals träumen lassen. Ein jüdischer Kriminalbeamter? Wer hatte denn so etwas je gehört? Seit Jahrhunderten fanden sich die Juden stets am falschen Ende eines Gummiknüppels wieder. Aber diese Tage waren vorbei, davon war Kraus überzeugt. Und er liebte seine Arbeit wirklich. Er glaubte an die Justiz und das Gesetz. Was zutiefst jüdisch war, soweit er das begriff. Auch wenn es keinen großen Unterschied machte.
    Selbstverständlich schämte er sich seiner Herkunft nicht, aber er betrachtete sie auch nicht unbedingt als den Grundpfeiler seiner Identität. Er feierte liebend gern die traditionellen Feiertage mit den Kindern, entzündete zum Beispiel Kerzen zu Hanukkah. Das Seder, das Essen zum Passahfest, auch wenn sie es recht liberal gestalteten. Er liebte es, Bücher über die ungeheuren Errungenschaften seines Volkes zu lesen und seinen langen, tränenreichen Weg. Aber im alltäglichen Leben des modernen Berlin bedeutete sein Judentum für ihn kaum etwas.
    Die Mordkommission befand sich im obersten Stockwerk.Kraus’ Schreibtisch stand direkt an einem Fenster. Von seinem Stuhl aus konnte er den halben Alexanderplatz überblicken. Sogar den ganzen, wenn er aufstand. Dann begriff er auch den Gesamtplan. Die neue U-Bahn-Station, die mit dem höher gelegenen Bahnhof verbunden sein würde, unter der neuen Verkehrsinsel, von der aus sich der Verkehrsfluss auf fünf große Straßen verteilte.
    »Guten Morgen, Herr Kriminalsekretär.«
    Frau Garber, die Sekretärin der Abteilung, war mit ihrem hölzernen Wägelchen aufgetaucht. Sie war eine schlanke, begehrenswerte Großmutter in den Vierzigern und eine der wenigen Leute auf diesem Stockwerk, die ihm nicht die kalte Schulter zeigte. Mehr als zwei Jahre nach Kraus’ Beförderung von Wache 157 in Wilmersdorf zur Mordkommission war er immer noch der Aussätzige der Abteilung. Und seine Kollegen machten ihm auf alle möglichen Arten klar, dass er genau das auch bleiben würde.
    »Übrigens hat Dr. Hoffnung angerufen.« Sie schenkte ihm Kaffee aus einer dampfenden Kanne ein und lächelte. »Er lässt Ihnen ausrichten, er wäre dann so weit.« Sie hielt ihm eine Tasse Kaffee hin, genauso wie er ihn mochte, schwarz mit einem Hauch von Zucker. »Das sind neue Bohnen, aus Brasilien.«
    »Ihr Kaffee ist einfach der beste, Frau Garber.«
    »Mittlerweile ist es Ihnen wohl gestattet, mich Ruta zu nennen, Herr Kriminalsekretär.«
    Dr. Hoffnung war einer der kompetentesten Spezialisten, denen Kraus im Präsidium begegnet war. Der Rechtsmediziner war unverblümt und vollkommen gelassen, normalerweise jedenfalls. An diesem Morgen jedoch wirkte der Doktor verstört, das sah Kraus sofort.
    »Das ist einer der sonderbarsten und, wie ich mich nicht scheue zu sagen, grauenvollsten Fälle, die mir in meinen zwanzigJahren untergekommen sind.« Hoffnung schob sich eine schwarze Pfeife zwischen die Zähne. Er knurrte und riss ein Laken zurück. Kraus schnürte sich die Kehle zu. In einer Reihe lagen auf dem Edelstahltisch der Jutesack und die unterschiedlichen Knochen.
    »Es macht mir wirklich keine Freude, berichten zu können, dass meine ursprüngliche Einschätzung korrekt war.« Die Pfeife des Doktors hing herunter, während er mit
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