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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman
Autoren: Paul Grossman
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kulturelles Leben. Als bei der Premiere von Im Westen nichts Neues Stinkbomben eine Hysterie auslösten, hatten die Behörden, anstatt Widerstand zu leisten, eine frühere Entscheidung widerrufen und den Film als »schädlich für die öffentliche Moral« deklariert. Damit hatten sie sämtliche weiteren Vorführungen verboten.
    »Das liegt am Börsenkrach.« Max faltete seine Serviette immer kleiner. »Die Menschen denken nicht mehr rational.«
    »Selbst an der Universität«, räumte Ava ein, »glauben intelligente Leute, irgendetwas ›Mystisches‹ an den Nazis feststellen zu können.«
    Die Geschwindigkeit ihres politischen Aufstiegs war allerdings tatsächlich bemerkenswert. Die Sozialdemokraten hatten jahrzehntelang um einen Block von Reichstagssitzen kämpfen müssen. Die Nazis hatten ein Viertel der Sitze bei einer einzigen Wahl erobert. Die Leute sagten, ein solcher Triumph könnte nicht auf gewöhnliche Weise erklärt werden. Sondern es wäre ein Wunder. Es hätte etwas Schicksalhaftes.
    Kraus’ Cousin Kurt nannte es eine neurotische Abwehrhaltung in nationalem Ausmaß und gab sich keine Mühe, seine Niedergeschlagenheit über diese Tatsache zu verbergen. Er diagnostizierte einen Minderwertigkeitskomplex bei den Deutschen, der sie dazu brachte, ständig überzukompensieren und sich selbst mit einem Gefühl der Überlegenheit zu täuschen. Und wenn sich die Realität dann nicht mit ihren aufgeblasenen Egos deckte, gerieten sie in Wut. Es wäre genau die Art von Neurose, meinte Kurt, die es ihnen unmöglich machte, die Verantwortung für ihr eigenes Unglück zu übernehmen; daher bräuchten sie einen Sündenbock, dem man die Schuld an jeglichem Missgeschick aufbürden könnte.
    Es bestand keinerlei Zweifel daran, wer dieser Sündenbock war.
    Sicher, an ihrem zweiten Tag im Parlament verzichteten die Nazidelegierten auf ständige Buhrufe und machten sich an die Arbeit. Sie brachten eine ganze Reihe von antisemitischen Gesetzentwürfen ein, die in ihrem Ausmaß und Umfang selbst eingefleischte Judenfeinde beeindruckten. Ziel war die komplette »Eliminierung des jüdischen Einflusses« in Deutschland ... und zwar in allen Berufen und auf allen Regierungsebenen undim öffentlichen Dienst. Einschließlich der Polizei. Auch wenn eine solche Maßnahme wie die Ariergesetze nur minimale Chancen hatte, verabschiedet zu werden, fürchtete Kurt, dass, falls sich die wirtschaftliche Situation nicht stabilisierte, die Lage der sechshunderttausend Juden in Deutschland möglicherweise bald ziemlich bedrohlich werden könnte.
    Kraus hatte in seinem Leben weit mehr Antisemitismus erlebt als Kurt, der als Psychiater in einem praktisch rein jüdischen Institut arbeitete. Aber auch wenn Kurts Analyse extrem klang, hegte Kraus viel Respekt für seine psychologischen Einsichten. Er hatte bei dem Kinderfresser -Fall ins Schwarze getroffen. Kraus war im Augenblick sehr empfindlich, was die Sicherheit seiner Familie anging, deshalb musste er darüber nachdenken, was zu tun war, falls sie dieses Land jemals verlassen mussten. Wohin sollten sie sich wenden? Sollte er zu seiner Schwester nach Palästina reisen? Die Briten hatten gerade die jüdische Immigration dorthin eingeschränkt. Und letztes Jahr waren zahllose Juden während der Araberaufstände in Stücke gehackt worden.
    Natürlich war die Nazipartei noch weit davon entfernt, Deutschland zu beherrschen. Je größer die Bewegung wurde, desto mehr Risse tauchten darin auf. Erst neulich hatten Braunhemden der SA ihr eigenes Hauptquartier zertrümmert, weil sie über ihre spärlichen Wurstrationen wütend waren. Man hatte die Berliner Polizei rufen müssen, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig umbrachten. Alles schien möglich.
    »Um Himmels willen«, warf Vickis Mutter ein und reichte eine große Schwarzwälder Torte herum. »Es ist Papas Geburtstag. Muss das wirklich sein?«
    »Mama hat recht.« Vicki nahm ihr das Messer ab. »Reden wir doch über die Familie. Wie geht es Tante Hedwig und Onkel Albrecht?« Sie schnitt Kraus ein Tortenstück ab.
    »Hervorragend.« Vickis Mutter zupfte an ihren Perlenketten. Trotz des Themenwechsels schien sie sich immer noch unbehaglich zu fühlen. »Aber erinnert ihr euch an dieses nette junge Paar neben ihnen, die Liebmanns? Das ist ja so schrecklich. Neulich ist er direkt nach dem Frühstück tot umgefallen.«
    Vicki stellte den Kuchen weg. »Du meinst den Apotheker? Der mit der Brille?«
    »Neununddreißig. Er hat seinen Toast gegessen
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