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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Mundschutz. Niemand sah es. Niemand bemerkte auch, wie oft sein Mund zuckte, wenn der stechende Schmerz von seiner bandagierten Brust aus durch den ganzen Körper jagte und sich Julius mit einer ihm selbst unvorstellbaren Energie gegen ein Zittern seiner Hände wehrte. Er lehnte sich dann gegen das blitzende Gestänge des OP-Tisches, atmete kaum und tat so, als beobachte er einige Hirnschläge oder sonstige Funktionen der Zwillinge.
    Prof. Karchow hatte den dritten Assistenten zur Seite geschoben und stand nun Julius gegenüber. Er hatte an den zuckenden Lichtlinien gesehen, daß der Kreislauf wieder zusammenbrach und injizierte erneut Anregungsmittel. Der wachhabende Internist kontrollierte die Herzschläge, sie waren müde und für ein Kind unendlich langsam.
    Julius mag die Transplantation gelingen, dachte er, aber bevor er sie abgeschlossen hat, ist der linke Zwilling gestorben. Dann heißt es schnell handeln … aber gerade Schnelligkeit ist eine Utopie bei dieser Operation.
    Dr. Julius hatte die erste Anastomose hergestellt, nun durchtrennte er die nächste Ader.
    »Ist etwas?« fragte er Prof. Karchow, der mit dem Internisten flüsterte. »Kreislauf?«
    »Mies –«, antwortete Karchow. »Zwilling I ist nicht mehr zu retten.«
    »Ich brauche noch eine halbe Stunde, dann kann die Defektdeckung beginnen. In einer Stunde können wir fertig sein.«
    »Wir wollen alles Menschenmögliche tun, Julius.«
    »Die vorletzte Anastomose.« Oberarzt Dr. Julius wechselte einen Blick mit Wollenreiter. Schaffen wir es? Gelingt uns heute alles, was an dem Affen Bruno so glatt verlaufen war?
    Er atmete tief auf, aber gleich jagten wieder die wahnsinnigen Stiche durch den Körper. Die festen Bandagen drückten und waren vom Schweiß getränkt. Julius nagte an der Unterlippe. Nicht stöhnen, dachte er. Bloß nicht zeigen, wie es um dich steht. Noch eine Stunde … dann kannst du umfallen, dann kannst du dich wegtragen lassen, dann können sie mit dir machen, was sie wollen. Aber diese eine Stunde muß noch durchgestanden werden!
    »Schere«, sagte Julius mit belegter Stimme.
    Prof. Hahnel sah ihn nachdenklich an.
    Wenn es nicht schon zu abgeklappert wäre, würde man sagen: So sieht ein Held aus!
    Oder soll man sagen: Mensch, versuche Gott nicht?
    In dem kleinen Warteraum saß Erna Lehmmacher am Fenster und starrte bewegungslos in den Garten der Klinik. Philipp Lehmmacher lag lang hingestreckt in einem der Sessel und schlief schnarchend. Er hatte zwei Taschenflaschen Schnaps getrunken und befand sich jetzt in einem Stadium, wo Zeit und Ort keine Rolle mehr spielten.
    Seit vier Stunden warteten sie nun. Vier Stunden lang dauerte bis jetzt die Operation. Und niemand kam, um ihnen ein Wort zu sagen, niemand tröstete sie, niemand berichtete: Es geht gut! Oder: Es ist kritisch. Oder: Wir müssen noch warten.
    Ein paar Schwestern, die hin und her liefen, konnten keine Auskunft geben, als Erna Lehmmacher verschiedentlich aus dem Warteraum stürzte und fragte: »Wie steht es da drinnen, Schwester?«
    Immer war die Antwort gleich. »Keine Ahnung. Wir waren nebenan. In den OP darf keiner rein. Wir wissen auch nichts.«
    Dann fiel auch der Trost Philipps aus. Er rutschte in den Sessel und schnarchte. Allein saß Erna Lehmmacher nun in dem stillen Raum und wartete. Vier Stunden lang. Vier Ewigkeiten. Die rote Lampe über den automatischen Türen glühte noch immer, und sie starrte auf dieses rote Licht und redete sich ein: Solange es brennt, leben sie. Es ist ihr Lebenslicht. Lieber, lieber Gott, laß sie weiterleben … ganz gleich, wie sie sind, wie sie einmal werden … es sind meine Kinder. Ich habe sie so lieb wie alle meine anderen Kinder.
    Kurz vor dem Ende der fünften Wartestunde erlosch plötzlich die kleine rote Lampe. Mit einem hellen Schrei fuhr Erna hoch und rüttelte ihren Mann wach.
    »Philipp«, rief sie. »Philipp! Wach auf! Himmel, wach doch auf. Es ist passiert … Philipp –«
    Lehmmacher zuckte nach etlichen Rüttelstößen hoch und brüllte unmotiviert: »Festhalten! Festhalten!« Er hatte gerade von einer Jagd nach einem Dieb geträumt und wachte mit dem Schrei auf, den er im Traum ausgestoßen hatte. Dann sah er sich mit stierem Blick um, erkannte, wo er war, und sah seine Frau weinend im Zimmer hin und her rennen.
    »Ist … ist es geschehen …?« stotterte er und schämte sich plötzlich, daß er noch immer schwankte.
    »Das Licht ist ausgegangen …« Erna zeigte auf die erloschene rote Lampe. »Sie sind fertig
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