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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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wimmerte und ließ sich füttern undbedienen. Kaum ging es ihm besser, stand er auf, zog sich an, humpelte aus der Tür und blieb tagelang fort.
    Die Familie besaß ein Haus in einem parkähnlichen Waldgrundstück in München-Grünwald und verbrachte dort viel Zeit, vor allem im Sommer. Die Dogge Agbar, der Rauhaardackel Seppl und ich durften auch mit. Das Haus war aus schwarzgebeiztem Holz, und das Dach zierte ein wunderschön geschnitzter Giebel. Niedrige Stuben mit vielen Betten für die Großfamilie und deren Freunde verteilten sich auf zwei Stockwerke. Ich war jetzt drei Jahre alt, und ich liebte dieses Haus, das Feuer im Kamin, und vor allem liebte ich es, mich nackt mit den Hunden im Gras zu wälzen. Einmal fand mich Mama weder im Haus noch im Garten. Aus der Hundehütte schauten drei Köpfe: die Dogge, der Dackel und in der Mitte mein feixendes Gesicht.
    Mama und Inge versteckten sich bei Waldspaziergängen oft hinter Bäumen, kicherten und ergötzten sich daran, mich verzweifelt herumirren zu sehen. Erst wenn ich nicht einmal mehr die Kraft zum Weinen hatte und mich auf dem Waldboden einrollte, hatten sie Mitleid und gaben sich zu erkennen.
    Inge verschwand manchmal stundenlang mit ihrer Geige im Wald, weil sie sonst nirgends Ruhe hatte, zu spielen. Von weit her kam ihre Musik. Immer länger blieb sie fort. Manchmal kam sie erst am nächsten Morgen zurück und sprach kein Wort, stand einfach nur da mit geschlossenen Augen. So als wollte sie nicht gesehen werden, von niemandem. Eines Tages hieß es dann, Inge sei tot.
    Ich springe vom Stuhl, rutsche mit der Schulter an der Tischkante entlang, bis ich mit den Fingern Mamas Knie berühre, und schaue sie lange an.
    »Warum ist Inge gestorben?«
    Mama reagiert nicht auf mich, sie starrt immer noch andie Wand. Ich spüre, dass sie weint, aber ich sehe keine Tränen. Dann sagt sie: »Ich weiß es nicht, keiner weiß es!«
    »Und dann, was war dann?«, frage ich weiter.
    Nach dem Tod von Mamas Schwester brach die Familie auseinander. Großmutter und Großvater trennten sich, die Geschwister wurden in alle Winde verstreut. Der jüngste Sohn, etwa 18 Jahre alt, blieb bei der Mutter. Sie mieteten eine Zweizimmerwohnung in Schwabing. Mama zog mit ihrem Vater und mir in jene große Altbauwohnung, die gleichzeitig auch Arztpraxis war.

M it Mama bei Großvater in der Praxis zu wohnen, finde ich schön. Dort ist jetzt mein Zuhause. Außerdem kommen immer viele Menschen, die von Großvater geheilt werden wollen. Oft sitze ich still in einer Ecke und lausche den Geschichten, die sie sich erzählen: von ihren Krankheiten, ihren Leiden. Vom 80. Geburtstag des Schwiegervaters im Schrebergarten-Vereinslokal. Dass mindestens neunzig Gäste da waren, von der einzigen Cousine aus Regensburg bis zum Urenkel aus Kanada. Dass man sich vor den Verwandten in Grund und Boden schämt, weil manche Pächter ihre Gärten zu einem Saustall verkommen lassen. Zum Beispiel der komische Neue. Er soll keine Frau haben, hat sich herumgesprochen. Man hört immer nur Männerstimmen aus der Hütte. So mancher Nachbar ist in der Dunkelheit schon am Garten entlanggeschlichen. Aber es war weder etwas zu sehen noch zu verstehen. Ob der lange geduldet wird vom Verein? Und was es alles zu essen gab: Schweinshaxen, Spanferkel, Knödel, Sauerkraut. Vor allem viel Fleisch! Wer sich von wem getrennt hat und dass die blonde Frau aus Polen, die kürzlich eine so wunderbare Hochzeit gefeiert hat, ihren Mann jetzt schon mit seinem Kollegen betrügt. Aber das darf keiner wissen. Dass das Enkelchen was ganz Besonderes ist, weil es mit zehn Monaten schon fast läuft, und dass Mutti mit ihren bandagierten Beinen kaum mehr gehen kann, obwohl sie das doch müsste wegen ihrer Thrombosen! Ihnen zuzuhören ist so spannend, wie ein Märchen vorgelesen zu bekommen.
    Aber das Schönste in meinem Leben ist, mit Mama im selben Zimmer schlafen zu dürfen. Die Betten sind so aneinandergestellt, dass wir Kopf an Kopf liegen. Wir fassen uns an den Händen und schlafen ein. Ich lasse Mamas Hand die ganze Nacht über nicht los.
    Wir leben zu dritt von dem Geld, das mein Großvater als Arzt verdient. Deshalb muss Mama ihm Praxis und Haushalt führen, und ich bin viel allein. Aber Fahrradfahren auf der Terrasse macht mir großen Spaß. Oder ich streune allein durch unser Viertel. Kaum trete ich auf die Straße, bekomme ich Hunger. Geld habe ich keines, deshalb lasse ich in den Geschäften anschreiben. Mama hat beim Bäcker und beim
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