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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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mehr Osten als Leipzig geht ja fast nicht mehr«, lacht sie.
    »Doch. Serbien.« Mir kommt es vor, als hätte ich den rechten Moment verpasst, in dem ich hätte zustoßen können. Da ist es wieder, das erstarkte Gewissen.
    Elena schaut auf die Uhr. »Müssen wir nicht bald los, Mama?«
    Sie schaut erschrocken. »Ach du liebe Zeit! Wir müssen uns noch umziehen, für die Party heute Abend.« Kurz entschlossen drückt sie mir das Fensterbild in die Hand. »Hier, nehmen Sie. Behalten Sie es.« Emma sucht meinen Blick. »Ich finde es sehr schade, dass wir uns jetzt erst kennenlernen. Scheint, als hätten wir ein paar Gemeinsamkeiten.«
    »Wohin ziehen Sie denn, Frau Karkow?«
    Sie zögert. »Verstehen Sie das nicht falsch, aber ich möchte es Ihnen lieber nicht sagen«, sagt sie dann. »Mein Ex-Mann ist ein ziemlich aufdringlicher Kerl, und ich traue ihm zu, dass er mich beobachten lässt und sie später nach meinem neuen Aufenthaltsort ausfragen möchte.«
    »Kein Problem«, meine ich freundlich. »Schade, dass es nicht geklappt hat mit Ihnen beiden.« Ich nicke Elena zu. »Es ist nie schön für ein Kind, ohne Vater aufzuwachsen.«
    »Er ist ein Arsch«, meint sie knapp.
    Emma und ich müssen lachen, und das Band zwischen uns verdichtet sich gegen meinen Willen weiter.
    »Machen wir es doch so«, schlägt sie vor. »Wir werden erst in drei Tagen die Stadt verlassen. Wenn wir uns bis dahin noch einmal zufällig treffen, nehmen wir das als Wink des Schicksals und gehen einen Kaffee trinken, um herauszufinden, ob das wirklich alles Zufälle sind.« Sie hält mir lächelnd die Hand hin.
    »Einverstanden.« Ich schlage ein und kann nicht verbergen, dass meine Finger zittern. Noch immer habe ich eine Hand auf dem Rücken, am Messer.
    »Ich bringe Sie zur Tür«, sagt Emma und schiebt sich an mir vorbei. Ich glaube, sie benutzt sogar ein ähnliches Parfüm wie ich.
    Elena springt um mich herum, während ich ihrer Mutter zur Tür folge, und schaut von allen Seiten. Bevor ich meinen Arm unauffällig zur Seite nehmen und den Mantel wieder glatt über den Dolch gleiten lassen kann, hat sie die Waffe gesehen, aber sie sagt nichts; stattdessen betrachtet sie ihn voller Neugier, und ich erkenne den Wunsch, mein Accesoire näher anschauen und anfassen zu dürfen.
    Ich kenne diesen Blick!
    Von einem Mädchen, das vor mehr als dreihundert Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben einen Janitscharen gesehen hat, der in ihr Haus kam und ihr die Mutter nahm.
    Elena sieht scheu zu mir hoch. Sie weiß, dass ein so großes Messer nicht gewöhnlich ist und dass heutzutage nur sehr wenige Menschen eine derartige Waffe mit sich herumtragen. Ich bin vermutlich die erste Person, die sie derart bestückt sieht.
    Spätestens jetzt gilt es, eine Entscheidung zu treffen.
    Emma läuft vor mir, sie dreht mir den Rücken zu und vertraut mir, der netten Frau aus der Nachbarschaft, der sie ihr Fensterbild geschenkt hat. Es wäre leicht, so leicht, sie zu töten.
    Ich schaue zu Elena, lege meinen Zeigefinger auf die Lippen und zwinkere; das Mädchen nickt.
    In diesem Augenblick dreht sich Emma herum. »Ihnen alles Gute … und einen guten Rutsch ins neue Jahr.«
    »Ihnen auch.« Ich gehe wieder vor Elena in die Hocke und halte ihr die Hand hin. »Dir wünsche ich, dass du dort, wo du hinziehst, viele neue Freunde findest.«
    Sie lächelt wissend. »Bestimmt«, meint sie und grinst frech. Ihre Augen zucken, schauen dorthin, wo sie den Dolch weiß. »Frohes neues Jahr.«
    »Danke, Elena.« Ich trete in den Flur und winke den beiden zu. Sie bleiben auf der Schwelle stehen, bis ich den ersten Treppenabsatz hinuntergegangen und aus ihrem Sichtfeld verschwunden bin; dann fällt die Tür hörbar ins Schloss.
    Ich bleibe stehen und sehe aus dem kleinen Fenster hinaus, lehne mich gegen das Geländer. Wie es aussieht, werde ich es nicht über mich bringen. Die kleine Familie lebt immer noch. Meine Familie …
    Ich bin kein Janitschar. Ich raube einem kleinen Mädchen nicht die Mutter und lasse es danach auch noch sterben.
    Ich bin eine Aeterna und ein Vampir. Beides wird mir dabei helfen, meine alte Aufgabe wieder aufzunehmen, solange sie eben dauern mag: meine Nachfahren zu beobachten und sie davor zu bewahren, ein solches Wesen zu werden, wie ich es bin.
    Langsam gehe ich die Treppe nach unten.
    Zufriedenheit breitet sich in mir aus, und ich fasse den Entschluss, dass ich Elena und Emma schon morgen wieder begegnen werde. Natürlich rein zufällig.
     
    Ich trete
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