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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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geöffneten Lidern zur Seite.
    Marek ist tot.
    Ich betrachte ihn und empfinde …
    … nichts.
    Da ist keine Wut, kein Hass mehr auf ihn. Er ist mir gleichgültig geworden. Gleichgültigkeit ist das Schlimmste, was man einer Kreatur antun kann, auch nach ihrem Tod. Dadurch stirbt sie vollkommen und gerät in Vergessenheit. Das soll mit ihm geschehen.
    Die Flocken legen sich auf Mareks Gesicht und schmelzen nicht mehr. Wenn ein Vampir tot ist, zieht die Wärme zusammen mit der Seele aus dem Körper. Dort, wo seine Seele hingeht, wird sie gestraft genug. Kein Dämon ist freundlich zu seinen Dienern.
    Ich schaue nach Osten, wo der klare Sternenhimmel bereits zu sehen ist und das Unwetter seine Macht verloren hat.
    Aber ich muss nach Westen.

XXIV.
Kapitel
    31. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 21.57 Uhr
     
    I ch stehe in der Karl-Liebknecht-Straße, schräg gegenüber des Hauses, hinter dessen Fenstern Elena und Emma wohnen.
    Bald wird eine neue Zeit anbrechen, und damit meine ich nicht den Beginn des Jahres 2008.
    Eine neue Zeit für mich.
    Mareks Worte und das, zu dem er mich durch seine Listen gebracht hat, haben Spuren hinterlassen, aber nicht so, wie es sich mein Bruder erhofft hatte.
    Das völlige Gegenteil ist eingetreten.
    Auch wenn ich es gewagt habe, mit einer neuen Frisur und neuen Papieren in die Stadt zurückzukehren, ist es nicht mehr das Gleiche, durch die verschneiten Straßen zu gehen.
    Ich liebe Leipzig noch immer, und als ich durch den Innenraum des Völkerschlachtdenkmals geschlendert bin, um mir die Statuen ein letztes Mal anzuschauen, hatte ich Tränen in den Augen.
    Es waren meine letzten Besuche an den Orten, die mir ans Herz gewachsen sind. Nirgends gibt es einen vergleichbaren Ort wie die Moritzbastei, die vielen schönen Hinterhöfe und Passagen.
    Ich stelle mir vor, dass Leipzig vielleicht ganz glücklich ist, wenn ich es verlasse. Mehr als einhundert Jahre habe ich mich in der Stadt herumgetrieben, habe sie wachsen und teilweise untergehen sehen. Auferstanden aus Ruinen, abgezockt vonImmobilienhaien und dennoch erhalten geblieben mit ihrem eigenen Charakter und Charme. Ich habe meine Spuren hinterlassen, habe über meine Kinder gewacht, mit Tränen in den Augen gemordet und mein Schicksal verflucht.
    Marek hat mir ein neues Schicksal schmackhaft machen wollen: die Auferstehung der Kinder des Judas.
    Schierer Unsinn.
    Ich hätte mehr Zeit damit verbracht, die Cognatio zu kontrollieren, als zu forschen und Gutes zu tun, wie ich es gewollt hätte. Außerdem weiß ich, dass meine großen Zeiten als Gelehrte längst vorbei sind.
    Schon nach der Trennung von den Kindern des Judas habe ich es bei der Theorie belassen und mich auf Briefverkehr mit klugen Köpfen der jeweiligen Zeit beschränkt. Es wird niemals jemand erfahren, wie vielen berühmten Männern und Frauen ich bei ihren Erkenntnissen und Erfindungen aus der Ferne beigestanden habe. Ich habe stets darüber geschwiegen und ihnen allen das Versprechen abgenommen, meine Existenz im Dunkeln zu lassen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
    Auch meine besonderen Fähigkeiten habe ich nicht mehr benutzt. Alles, was mich an mein altes Leben als Scylla erinnerte, hatte ich abgelegt.
    War es ein Fehler, wie Marek behauptet hat?
    Ein Bus fährt dicht an mir vorüber und schleudert Schneematsch gegen den Saum meines Mantels. Ich weiche fluchend weiter vom Fahrbahnrand zurück. Es wäre wohl besser, mit meinen Gedanken in der Gegenwart zu bleiben, anstatt in der Vergangenheit umherzustreifen.
    Ich beobachte einen Mann, der ein kleines Mädchen an der Hand hält und mit ihr über den schlechtgeräumten Weg bummelt. Er lächelt sie an, während sie von Schneefleck zu Schneefleck hüpft und in die kleinen Hügel tritt.
    Marek hat mich nie verstanden. Ich habe nach Frieden, nachRuhe in meiner Existenz und einer menschlichen Aufgabe gesucht: das Kind großzuziehen, das mir genommen wurde. Ich habe es erst im zweiten Anlauf geschafft, nachdem ich mit Viktors Vater eine Affäre hatte.
    Heute, rückblickend und weiser, kommt mir mein Verhalten in jenen Jahren töricht und egoistisch vor, wenngleich ein Teil von mir es nach wie vor nicht bereut, Nachfahren in diese Welt gesetzt zu haben.
    Nicht alle sind zu Monstern und Psychopathen geworden; manche lebten ein normales, ruhiges Leben, andere ein herausragendes als Forscher und Wissenschaftler. Unglaublich, wie sich Talente vererben – und nicht nur die Makel.
    Ich recke den Kopf in den kalten Wind und
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