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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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nickte. „Natürlich würde es sehr gut klingen. Hast du den Text verstanden?“
    „Natürlich“, sagte er. „Soll ich es dir einmal vorsingen?“
    „Ja“, sagte die alte Frau. „Wie soll ich sonst erfahren, ob du es beherrschst?“
    Der Sänger grinste und nahm sein Instrument. „Es wird dir gefallen“, sagte er. Er schlug die Saiten äußerst langsam an, der Raum füllte sich mit Melancholie. Dann sang er ihr Lied mit seiner hohen, süßen, wohlklingenden Stimme.
    Als er geendet hatte, lächelte er. „Hat es dir gefallen?“
    „Guck nicht so eingebildet“, sagte sie. „Der Text war in Ordnung.“
    „Und mein Gesang?“
    „Gut“, gab sie zu. „Gut, und du wirst noch besser werden.“
    Damit war er zufrieden. „Du hast nicht übertrieben, du verstehst tatsächlich etwas von gutem Gesang.“ Beide mußten lachen. „Es ist seltsam, daß ich dieses Lied nie zuvor gehört habe. Ich habe alle anderen Lieder über sie gesungen, aber ich wußte nicht, daß Maris auf diese Art gestorben ist.“ Seine grünen Augen sahen sie an. Das Licht spiegelte sich in ihnen, und sie gaben seinem Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck.
    „Mach keine Witze“, sagte sie. „Du weißt ganz genau, daß ich die Frau in dem Lied bin, und ich bin weder auf diese, noch auf eine andere Art gestorben. Noch nicht, aber es wird nicht mehr lange dauern.“
    „Hast du wirklich vor, dir ein Flügelpaar zu stehlen und von einer Klippe zu springen?“
    Sie seufzte. „Das hieße, ein Flügelpaar zu vergeuden. Ich glaube nicht, daß es mir in meinem Alter gelingen würde, Rabes Fall zu überbieten, obwohl ich das immer vorhatte. Ich habe wohl ein halbes Dutzend solcher Versuche in meinem Leben gesehen, und das Mädchen, das es als letzte versuchte, sprang mit einer gebrochenen Strebe und starb. Ich habe es nie selbst ausprobiert. Aber ich habe davon geträumt, Daren, ja, das ist wahr. Diese eine Sache ist mir nie gelungen, aber ich glaube, das ist trotzdem eine gute Bilanz.“
    „Ja, nicht schlecht“, sagte er.
    „Was meinen Tod anbelangt“, sagte sie, „ich denke, ich werde hier im Bett in nicht allzu ferner Zukunft sterben. Vielleicht werde ich sie auch bitten, mich hinauszutragen, damit ich ein letztes Mal den Sonnenuntergang sehen kann. Vielleicht aber auch nicht. Meine Augen sind nämlich so schlecht, daß ich sowieso nicht viel erkennen würde. In jedem Fall wird mich, nachdem ich tot bin, jemand in ein Fliegergeschirr stecken und mich über das Meer hinausfliegen, um mich so zu bestatten, wie es einem Flieger gebührt. Warum, weiß ich auch nicht. Eine Leiche kann sowieso nicht fliegen. Wenn man sie fallengelassen hat, fällt sie wie ein Stein, geht unter oder wird von den Szyllas gefressen. Das ganze ist zwar nicht sinnvoll, aber es entspricht der Tradition. Sie seufzte. „Val Einflügler hatte die richtige Idee. Er wurde hier auf Seezahn in einem gemauerten Grab bestattet, auf dem eine Statue steht. Er hat sie selbst entworfen. Aber ich konnte nie mit der Tradition brechen, so wie es Val getan hat.“
    Er nickte. „Du ziehst es vor, daß sie sich an deinen Tod erinnern, so wie er in dem Lied beschrieben wird, statt an deinen tatsächlichen Tod?“
    Sie sah ihn böse an. „Ich dachte, du wärst ein Sänger“, sagte sie. Dann blickte sie in die andere Richtung. „Ein Sänger sollte das verstehen. Das Lied … das ist die Art, wie ich sterbe. Coll wußte das, als er das Lied für mich schrieb.“
    Der junge Sänger zögerte. „Aber …“
    Die Tür ging auf, und Odera, die Heilerin, kam mit einer Kerze in der einen und einem Glas in der anderen Hand herein. „Genug gesungen“, sagte sie. „Das strengt dich zu sehr an. Es ist Zeit für deinen Schlaftrunk.“
    Die alte Frau nickte. „Ja“, sagte sie. „Meine Kopfschmerzen werden schlimmer. Hüte dich davor, von einem hundert Meter hohen Felsen zu stürzen, Daren. Falls es dir trotzdem einmal passieren sollte, dann lande lieber nicht auf deinem Kopf.“ Sie nahm Odera das Glas Tesis aus der Hand und trank es auf einen Zug aus. „Schrecklich“, sagte sie. „Du solltest es wenigstens würzen.“
    Odera zog Daren zur Tür. Dann blieb er stehen. „Das Lied“, sagte er, „ich werde es singen. Und viele andere werden es singen. Aber ich werde es nicht singen bis – du weißt – bis ich höre …“
    Sie nickte. Schläfrigkeit bemächtigte sich ihres Körpers, der Tesis begann zu wirken. „Das ist gut so“, sagte sie.
    „Wie heißt es?“ fragte er. „Das
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