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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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nicht wahr?“
    „Ja“, sagte er. „Ich komme aus einem Ort am Ende der Welt, von dem du sicher noch nie etwas gehört hast. Er heißt Sturmhammer – die Entlegenste.“
    „Ah“, sagte sie. „Den kenne ich. Den Ostwachturm und die Ruinen, die ihn umgeben. Ich erinnere mich auch an das bittere Getränk, das ihr aus Wurzeln braut. Euer Landmann hat darauf bestanden, daß ich es probiere, und dann hat er gelacht, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Er war ein Zwerg. Ich habe nie einen häßlicheren, aber auch nie einen klügeren Mann getroffen.“
    Der Sänger blickte erstaunt drein. „Er ist seit mehr als dreißig Jahren tot“, sagte er, „aber du hast recht, ich habe Geschichten über ihn gehört. Du bist also dort gewesen?“
    „Drei- oder viermal“, sagte sie und genoß seine Reaktion. „Vor vielen Jahren, lang bevor du geboren wurdest. Ich war eine Fliegerin.“
    „Oh“, sagte er, „natürlich. Das hätte ich ahnen können. Seezahn ist voll von Fliegern, nicht wahr?“
    „Teils, teils“, antwortete sie. „Hier befindet sich die Holzflügler-Akademie, und die meisten, die sich hier aufhalten, sind Träumer, die ihre Flügel noch erringen müssen oder Lehrer, die ihren Flügeln nachtrauern. Wie ich. Bis ich krank wurde, war ich selbst Lehrerin. Jetzt liege ich hier und verbringe meine Zeit mit Erinnerungen.“
    Der Sänger schlug die Saiten an. Ein heller Akkord klang an und verschwand wieder in der Stille. „Was möchtest du hören?“ fragte er. „Ich kenne ein neues Lied, es ist sehr beliebt in Sturmstadt.“ Er verzog das Gesicht. „Aber es ist ein wenig zotig. Vielleicht gefällt es dir nicht.“
    Die alte Frau lachte. „Ja, mag schon sein. Aber du wärst überrascht, über die Dinge, an die ich mich erinnere. Ich ließ dich jedoch nicht rufen, damit du mir etwas vorspielst.“
    Mit großen grünen Augen sah er sie an. „Warum dann?“ fragte er verwirrt. „Man sagte mir … Ich war in einer Kneipe in Sturm-Stadt, ich bin erst vorgestern mit dem Schiff angekommen, plötzlich kam ein Junge auf mich zu und sagte, daß man einen Sänger auf Seezahn benötigte.“
    „Und du bist gekommen. Du hast die Kneipe verlassen. Hast du dein Publikum nicht begeistern können?“
    „Doch, doch“, sagte er. „Ich war noch nie zuvor auf Shotan gewesen, und die Zuhörer waren weder taub noch geizig. Aber …“ Er hielt verschreckt inne. Panik stand in seinem Gesicht geschrieben.
    „Aber du bist gekommen“, sagte die alte Frau, „weil man dir sagte, eine sterbende Frau wolle dich sehen.“
    Er sagte nichts.
    „Keine Angst“, sagte sie, „du hast kein Geheimnis verraten. Ich weiß, daß ich sterbe. Odera und ich haben offen darüber gesprochen. Eigentlich hätte ich schon vor Jahren sterben müssen. Ich leide ständig unter Kopfschmerzen, und ich fürchte zu erblinden, außerdem habe ich die meisten meiner Zeitgenossen überlebt. Bitte, verstehe mich nicht falsch. Ich möchte nicht sterben, aber so kann ich auch nicht weitermachen. Ich halte diese Schmerzen und meine Hilflosigkeit nicht mehr aus. Ich habe Angst vor dem Tod, aber wenigstens befreit er mich von dem Geruch in diesem Raum.“ Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, lächelte sie. „Du mußt nicht so tun, als würdest du ihn nicht bemerken. Ich weiß, daß es hier schlecht riecht. Es riecht nach Krankheit.“ Sie seufzte. „Ich ziehe andere Düfte vor, zum Beispiel Gewürze, Salzwasser oder sogar Schweiß. Wind. Sturm. Ich erinnere mich noch an den Duft aufbrechender Knospen.“
    „Ich könnte dir etwas vorsingen“, sagte der junge Mann vorsichtig. „Frohe Lieder, um deine Stimmung etwas aufzuheitern. Lustige Lieder oder traurige, ganz wie du willst. Vielleicht vertreiben sie deine Schmerzen.“
    „Kivas vertreibt den Schmerz“, antwortete die alte Frau. „Odera braut einen sehr starken, manchmal würzt sie ihn mit Süßlied oder Kräutern. Sie gibt mir Kivas damit ich besser schlafen kann. Deine Lieder lindern meine Schmerzen nicht.“
    „Ich bin zwar jung“, sagte der Sänger, „aber ich bin gut. Laß es mich dir beweisen.“
    „Nein.“ Sie lächelte. „Ich bin mir ganz sicher, daß du gut bist, obwohl ich deine Talente nicht zu schätzen weiß. Vielleicht werden auch meine Ohren schlechter, vielleicht liegt es auch nur am Alter, aber in den letzten zehn Jahren habe ich keinen Sänger gehört, der so gut war wie jene, die ich früher kannte. Ich habe die besten gehört. Vor langer Zeit habe ich S’Lassa und T’rhennian
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