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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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der Flügel helfen zu dürfen. S’Rella machte eine halbe Drehung und suchte Maris. Ihre Blicke trafen sich. Maris atmete tief durch und bemühte sich, die Angst zu überwinden. Dann ließ sie Evans Hand los und machte einen Schritt vorwärts. „Laß mich dir helfen“, sagte sie.
    Wie gut sie das alles kannte. Die Oberfläche des Metallgewebes, das Gewicht der Flügel in ihrer Hand, das vertraute Einrasten der Streben. Obwohl sie selbst keine Flügel mehr trug, liebten ihre Hände die Berührung. Es war ihr ein Vergnügen, S’Rella helfen zu können, auch wenn sie ein wenig Wehmut spürte.
    Als die Hügel vollends ausgebreitet, und die letzten Streben eingerastet waren, kehrte die Angst zurück. Es war völlig irrational, und Maris hätte nie gewagt, S’Rella etwas davon zu sagen, aber sie hatte das Gefühl, daß S’Rella, sobald sie von der gefährlichen Klippe abgesprungen war, stürzen würde, wie damals sie selbst.
    Schließlich zwang sie sich zu sagen: „Mach’s gut.“ Ihre Worte waren kaum zu hören.
    S’Rella sah sie an. „Oh, Maris“, sagte sie. „Du wirst es nicht bereuen, du hast die richtige Entscheidung getroffen. Bald werden wir uns wiedersehen.“ Dann erübrigten sich alle weiteren Worte. S’Rella beugte sich nach vorn und küßte ihre Freundin.
    „Mach’s gut“, sagte S’Rella wie ein Flieger zu einem anderen. Dann wandte sie sich der Fliegerklippe, dem Meer und dem Himmel zu und sprang in den Wind.
    Von überall her erscholl Applaus, während S’Rella einen Aufwind erwischte und über der Klippe drehte. Ihre Flügel glänzten in der Dunkelheit. Sie stieg immer höher und glitt über das Meer. Plötzlich war sie nicht mehr zu sehen. Der Nachthimmel hatte sie verschluckt.
    Maris starrte noch lange in den Himmel, nachdem S’Rella verschwunden war. Ihr Herz war voll von Entschlossenheit und Schmerz gleichermaßen und dem alten Gefühl der Freude. Sie würde überleben. Selbst ohne die Flügel würde sie immer eine Fliegerin bleiben.

Epilog
     
     
    Als die Tür geöffnet wurde, erwachte die alte Frau in einem Raum, der nach Krankheit roch. Außerdem roch es nach Salzwasser und Rauch, und nach dem Gewürztee, der neben ihrem Bett kalt geworden war. Aber der Geruch nach Krankheit überwog bei weitem und gab dem Raum etwas Enges, Erdrückendes.
    In der Tür stand eine Frau mit einer Kerze. Die alte Frau konnte das Licht sehen, das gelbliche Flackern der Flamme, und sie erkannte die Person, die die Kerze hielt, und sie erkannte, daß noch eine weitere Person neben ihr stand, obwohl sie die Gesichter nicht ausmachen konnte. Ihre Sehfähigkeit war nicht in Ordnung. Ihr Kopf schmerzte schrecklich, wie so oft, wenn sie aufwachte. So ging es schon seit Jahren. Mit einer zarten Hand, auf der sich blaue Venen deutlich abzeichneten, griff sie sich an die Stirn und blickte zur Seite. „Wer ist da?“ fragte sie.
    „Odera“, sagte die Frau mit der Kerze. Die alte Frau erkannte die Stimme der Heilerin. „Derjenige, um den du gebeten hast, ist gekommen. Fühlst du dich stark genug, um mit ihm zu sprechen?“
    „Ja“, sagte die alte Frau. „Ja.“ Sie bemühte sich aufzurichten. „Komm näher heran“, sagte sie. „Ich möchte dich sehen.“
    „Soll ich bleiben?“ fragte Odera unsicher. „Brauchst du mich?“
    „Nein“, sagte die alte Frau. „Nein, für einen Heiler gibt es hier nichts zu tun. Ich möchte nur ihn sprechen.“
    Odera nickte. Obwohl die alte Frau das Gesicht nicht erkennen konnte, nahm sie diese Geste wahr. Odera entzündete die Öllampen mit der Kerze und schloß die Tür, als sie hinausging.
    Der andere Besucher nahm sich einen Lehnstuhl und setzte sich dicht neben das Bett, von wo aus sie ihn gut sehen konnte. Er war jung, fast noch ein Kind, von ungefähr zwanzig Jahren. Über seiner Oberlippe deutete sich ein erster Bartwuchs an. Sein Haar war blond und lockig, seine Augenbrauen nahezu unsichtbar. Aber er hatte ein Instrument bei sich. Eine Art Gitarre, jedoch quadratisch und nur mit vier Saiten bespannt. Nachdem er sich gesetzt hatte, begann er es zu stimmen. „Soll ich dir etwas vorspielen?“ fragte er. „Hast du einen besonderen Wunsch?“ Er hatte eine angenehme Stimme, die jedoch die Spur eines Akzentes aufwies.
    „Du bist weit weg von zu Hause“, sagte die alte Frau.
    Er lächelte. „Woher weißt du das?“
    „Dein Akzent“, sagte sie. „Es ist viele Jahre her, seit ich zum letztenmal so einen Akzent gehört habe. Du kommst von den Äußeren Inseln,
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