Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
Vom Netzwerk:
sprechen wollen. Sie versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. „Ich gehöre zu Evan. Ich kann ihn nicht verlassen.“
    „Man sagt, der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand.“
    Maris drehte sich um und sah Evan. Die Zärtlichkeit, die sich in seinen Augen widerspiegelte, ließ ihr keinen Zweifel. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Sie konnte ihn nicht verlassen.
    „Aber niemand spricht davon, daß du mich verlassen sollst“, sagte er. „Ich habe gerade mit einem jungen Heiler gesprochen, der nur darauf wartet, mein Haus und meine Patienten zu übernehmen. In einer Woche könnte ich fertig zur Abreise sein.“
    Maris sah ihn an. „Fortgehen? Dein Haus verlassen? Aber warum?“
    Er lächelte. „Um mit dir nach Seezahn zu gehen: Wahrscheinlich wird es keine angenehme Reise, aber so können wir uns wenigstens gegenseitig bemitleiden.“
    „Aber … ich verstehe nicht. Evan, du kannst doch nicht … dein Zuhause!“
    „Wo immer du auch hingehst, ich werde mit dir gehen“, sagte er. „Ich kann dich nicht bitten, auf Thayos zu bleiben, nur um dich bei mir zu haben. So egoistisch kann ich nicht sein, weil ich weiß, daß man dich in der Akademie braucht.“
    „Aber wie kannst du fortgehen? Wie willst du leben? Du hast Thayos noch nie verlassen.“
    Er lachte, aber es klang ein wenig verärgert. „So wie du es darstellst, klingt es, als wollte ich unter Wasser leben. Wie jeder andere, kann ich Thayos mit dem Schiff verlassen. Mein Leben ist noch nicht zu Ende, und weil dem so ist, kann ich es jederzeit ändern. Sicherlich gibt es auch für einen alten Heiler auf Seezahn etwas zu tun.“
     
    „Evan.“
    Er legte den Arm um sie. „Ich weiß. Glaub mir, ich habe darüber nachgedacht. Sicherlich hast du nicht gemeint, ich würde schlafen, als du dich letzte Nacht im Bett drehtest und wendetest und überlegtest. Ich bin zu dem Entschluß gekommen, dich nicht zu verlassen. Ich muß mutig sein und etwas Neues probieren. Ich werde mit dir gehen.“
    Maris konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, obwohl sie nicht wußte, warum sie weinte. Evan zog sie an sich und hielt sie fest, bis sie sich beruhigt hatte.
    Als er sie losließ, konnte Maris hören, daß Coll Bari versicherte, daß ihre Tante glücklich war und daß sie vor Freude weinte. Außerdem sah sie S’Rella, die ein wenig abseits stand, sie strahlte vor Freude.
    „Ich gebe auf“, sagte Maris. Ihre Stimme zitterte. Sie wischte sich die Tränen ab. „Ich kann keine Entschuldigungen mehr vorbringen. Ich werde nach Seezahn gehen – wir werden nach Seezahn gehen, sobald wir ein Schiff bekommen können.“
    Was als Spaziergang einiger Freunde S’Rellas zur Fliegerklippe begann, endete als Prozession und Weiterführung des Festes im Freien. Maris, Evan und Coll galten als gefeierte Helden, und jeder wollte ihnen nahe sein, um aus erster Hand zu erfahren, was so besonders war an der Fliegerin, dem Heiler und dem Sänger, die den tyrannischen Landmann vertrieben, den Krieg beendet und die stille Drohung der schwarzen Flieger aufgehoben hatten. Falls noch jemand der Meinung war, Tya hätte einen Fehler begangen und ihr Schicksal verdient, so wagte man nicht, das auszusprechen, denn diese Ansicht galt als unpopulär.
    In dieser fröhlichen Menge, die sie bewunderte, gab es dennoch Ressentiments, das wußte Maris, denn es war ihr nicht gelungen, die Unstimmigkeiten zwischen den Landgebundenen und den Fliegern oder die Meinungsverschiedenheiten zwischen den geborenen Fliegern und den Einflüglern auf immer zu verbannen. Früher oder später würden die Konflikte wieder aufbrechen.
    Diesmal gab es keinen einsamen Marsch durch den Felstunnel. Von den Wänden echoten die Stimmen des Begleittrupps und viele Fackeln brannten und qualmten und füllten den Gang mit Leben.
    Sie traten in die dunkle, windige Nacht hinaus. Die Sterne waren hinter Wolken versteckt. Maris sah S’Rella, die am Rand der Fliegerklippe stand und mit einem Einflügler sprach, der noch in Schwarz gekleidet war. Als Maris S’Rella an der vertrauten Klippe stehen sah, fühlte sie, wie sich ihr Magen zusammenzog und sich ein Schwindelgefühl ihrer bemächtigte. Ohne Evans Unterstützung wäre sie womöglich ohnmächtig geworden. Sie hatte dem Absprung nicht beiwohnen wollen, denn von hier war sie nicht einmal, sondern zweimal abgestürzt. Plötzlich hatte sie Angst.
    Einige Jugendliche stürmten herbei, lauthals bewarben sie sich um das Vorrecht, S’Rella beim Fertigmachen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher