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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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ins Meer, andere, die sich zu nahe an die Wasseroberfläche wagten, wurden von Szyllas in die Tiefe gezerrt. Stürme konnten sie vom Himmel fegen, Blitze verfolgten ihre metallhaltigen Flügel – ja, ein Flieger konnte auf viele Arten sterben. Die meisten, vermutete Maris, verirrten sich einfach und verfehlten ihr Ziel. Blindlings flogen sie weiter, bis die Erschöpfung sie übermannte. Einige wenige fielen wohl auch der größten Gefahr des Himmels zum Opfer: der Windstille. Maris wußte heute, daß Rabe von Anfang an ein Todeskandidat gewesen war, ein Flieger, der aus Angeberei die Grundregeln der Vernunft außer Acht ließ.
    Dorreis Stimme riß sie aus ihren Erinnerungen. „Maris“, sagte er, „he, schlaf uns nicht ein.“
    Maris stellte den leeren Krug auf den Tisch zurück. Noch immer suchten ihre Hände die Wärme des rauhen Steins. Energisch zog sie die Hand zurück und griff nach ihrem Pullover.
    „Er ist noch nicht trocken“, protestierte Garth.
    „Ist dir kalt?“ fragte Dorrel.
    „Nein, aber ich muß zurück.“
    „Du bist viel zu müde“, sagte Dorrel, „bleib über Nacht.“
    Maris entzog sich seinem Bück. „Ich muß. Sie werden sich Sorgen machen.“
    Dorrel seufzte. „Dann zieh dir wenigstens trockene Sachen an.“ Er stand auf, ging in die gegenüberliegende Ecke des Gemeinschaftsraumes und öffnete die Türen eines hölzernen Kleiderschrankes. „Komm her und such dir etwas aus.“
    Maris rührte sich nicht. „Ich nehme besser meine eigenen Sachen. Ich komme nicht mehr zurück.“
    Dorrel fluchte leise. „Maris, stell dich nicht an … du weißt … sei vernünftig, nimm die Sachen. Du weißt, daß du sie behalten kannst, außerdem haben wir ja deine als Ersatz. Ich lasse dich nicht in nassen Kleidern gehen.“
    „Schon gut“, sagte Maris. Garth lächelte sie an, während Dorrel auf sie wartete. Langsam erhob sie sich und zog das Handtuch fester, während sie sich vom Feuer entfernte. Die Spitzen ihrer kurzen dunklen Haare fielen feucht und kalt gegen ihren Hals. Gemeinsam mit Dorrel suchte sie etwas Passendes aus dem Kleiderstapel heraus. Endlich fand sie eine Hose und einen braunen Wollgraspullover, die ihrer schlanken, drahtigen Figur entsprachen. Dorrel sah ihr beim Anziehen zu und ergriff schnell seine eigenen Sachen. Dann nahm sie ihr Fluggestell vom Ständer neben der Tür. Prüfend fühlte Maris mit ihren langen starken Fingern über die Streben. Die Flügel versagten selten, aber wenn ein Schaden auftrat, dann meist an den Scharnieren. Die Metallfolie schimmerte weich und stark, wie zu jener Zeit, als die Sternensegler sie auf diese Welt gebracht hatten. Zufrieden schnallte sie die Flügel fest. Sie befanden sich in gutem Zustand. Coli würde sie jahrelang tragen können und auch seine Nachkommen konnten sie übernehmen.
    Garth war neben sie getreten. Sie sah ihn an.
    „Mir fällt es nicht so leicht, die richtigen Worte zu finden, wie Coli oder Dorrel“, begann er. „Ich … also. Leb wohl, Maris.“ Er errötete und sah jämmerlich drein. Flieger sagten sich nicht Lebewohl. Aber ich bin kein Flieger, dachte sie, umarmte und küßte Garth und sagte ihm Lebewohl, den Abschiedsgruß der Landgebundenen.
    Dorrel begleitete sie nach draußen. Hier oben blies immer ein kräftiger Wind, aber der Sturm war vorüber. In der Luft lag ein feiner, salziger Sprühnebel, und die Sterne blinkten.
    „Bleib wenigstens zum Essen“, bat Dorrel. „Garth und ich würden darum kämpfen, dich bedienen zu dürfen.“
    Maris schüttelte den Kopf. Sie hätte nicht kommen dürfen. Sie wäre besser gleich nach Hause geflogen, ohne Garth und Dorrel Lebewohl zu sagen. Es wäre leichter gewesen, einfach so zu tun, als würde nichts geschehen, als bliebe alles beim alten, und dann zu verschwinden. Als sie die steile Sprungklippe erreichten, dieselbe, von der sich Rabe vor so langer Zeit in die Tiefe gestürzt hatte, griff sie nach Dorreis Hand. Eine Weile standen sie schweigend da.
    „Maris“, begann er stockend. Er starrte auf das Meer, während er ihre Hand in seiner hielt. „Maris, du könntest mich heiraten. Wir könnten uns die Flügel teilen, dann müßtest du nicht gänzlich auf das Fliegen verzichten.“
    Maris ließ seine Hand los. Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Dazu hatte er kein Recht; es war grausam, so etwas vorzuschlagen. „Nicht“, flüsterte sie. „Du darfst die Flügel mit niemandem teilen.“
    „Tradition“, sagte er verzweifelt. Sie spürte seine Enttäuschung. Er
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