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Mythos Ueberfremdung

Mythos Ueberfremdung

Titel: Mythos Ueberfremdung
Autoren: Doug Sounders
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I Die neuen Nachbarn
    V or etwa 15 Jahren begann sich mein Londoner Stadtviertel zu verändern. Uns fiel das zum ersten Mal auf, als wir die Menschenmenge genauer betrachteten, die da in der eher rauen Holloway Road beim Einkaufen unterwegs war. Plötzlich sah man dort sehr viel mehr Frauen, die ihr Haar bedeckten: Manche trugen einen farbenfrohen Hidschab, andere den in Ostafrika üblichen Schleier, wieder andere den düsteren Tschador, und gelegentlich sah man an einer Bus haltestelle ein Augenpaar aus einem schmalen Schlitz im alles verhüllenden schwarzen Sack eines saudischen Niqabs hervorschauen. Diese Frauen hatten oft, ganz egal, wie nun ihr Kopfputz aussah, eine kleine Kinderschar bei sich.
    Und dann veränderte sich die Straße selbst: Zu den Pubs und kleinen Geschäften gesellte sich eine große Zahl türkischer Esslokale, einige davon mit ausgezeichnetem Angebot, schäbige Internetcafés und Läden für Geldüberweisungen mit unverständlichen arabischen Schriftzeichen. Innerhalb weniger Jahre hatte man das Gefühl, als sei der Islam auf dem Vormarsch. Unser Kindermädchen für die Mittagsbetreuung, eine junge Französin, die in einem Dorf in den Alpen aufgewachsen war und gerne mal die Nacht durchfeierte, konvertierte plötzlich zum Glauben ihrer neuen alge rischen Freunde, bedeckte ihr Haar und betete fünfmal täglich. Sie wurde pünktlicher und ordentlicher, und ihre Aufmerksamkeit für unsere Kinder ließ keineswegs nach, aber sie wirkte sehr viel ernster und weniger begeistert von unserem Essen.
    Die neuen Einwanderer aus Ostafrika, der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und vom indischen Subkontinent wurden unsere Freunde, Ladenbesitzer, Mitschüler und Ärzte. In diesen von großer Anspannung geprägten Jahren zu Beginn des Jahrhunderts war es allerdings schwierig, ihre Religion nicht mit Gewalt und Extremismus in Verbindung zu bringen. Die Finsbury-Park-Moschee, das am nächsten gelegene muslimische Gotteshaus, bekam häufig Besuch von der Polizei. Im Jahr 1997 hatte sie ein aus Ägypten stammender ehemaliger afghanischer Mudschaheddin-Kämpfer übernom men, der sich Abu Hamza nannte. Der halb blinde Geistliche mit der Haken-Handprothese, der von der britischen Boule vardpresse als »hooky mullah« apostrophiert wurde, hielt aggressive Predigten, in denen er zur Ermordung von Nichtmuslimen in islamischen Ländern aufrief, und geriet in die Schlagzeilen, als er die Attentäter des 11. September lobte. Im Jahr 2004 wurde er verhaftet und wegen Terrorismus und Anstiftung zum Rassenhass zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach diesen Ereignissen wurden die Extremisten vom Besuch dieser Moschee ausgeschlossen und des Landes verwiesen. Der neue Imam war für seine Mäßigung bekannt, und in der Umgebung der Moschee sah man jetzt nicht mehr so viele glaubenseifrige bärtige Männer. Doch das Gefühl der Unsicherheit und Anspannung hielt an, vor allem nachdem ein Nachbar bei den Selbstmordanschlägen auf das Londoner Nahverkehrssystem schwer verletzt worden war. Die meisten Attentäter waren in England geborene Muslime aus Leeds, die sich äußerlich überhaupt nicht von manchen unserer Nachbarn unterschieden.
    Wer würde sich da keine Sorgen machen? Selbst als meine Kinder mit den Usamas und Leilas in ihrem Umfeld Freundschaft schlossen, konnte ich mir misstrauische Blicke auf einige meiner neuen Nachbarn nicht verkneifen. Ich habe den größten Teil meines Lebens unter Einwanderern verbracht und bin natürlich selbst einer, aber in jenen finsteren Jahren nach den Terrorangriffen war das Gefühl, die Muslime seien anders als wir, nur mit Mühe zu unterdrücken: Es lag auf der Hand, dass sie weniger anpassungs bereit waren, stärker zu Extremismus neigten, eher den Lehren ihrer Religion als den Gesetzen und sozialen Normen des jeweiligen Landes folgten, in dem sie sich auf hielten. Sie hatten große Familien, schien es, und wir hatten kleine, und manchmal fürchtete ich, sie könnten zur Mehrheit werden und die illiberalen Überzeugungen der strenger Gläubigen unter ihnen könnten die Vorherrschaft erlangen und so die westliche Vorliebe für Toleranz, Gleichberechtigung und Säkularisierung zu einer historischen Fußnote machen. Und wenn ich so empfinden konnte, ein Autor, der einige Jahre in muslimischen Kulturen gelebt hatte, musste es Millionen von Menschen geben, die einen ähnlichen Argwohn hegten.
    Das alles hatten wir schon einmal. Hätte ich vor 120 Jahren am gleichen Ort in London gelebt,
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