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Mythos Ueberfremdung

Mythos Ueberfremdung

Titel: Mythos Ueberfremdung
Autoren: Doug Sounders
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stellen, und behauptete, dieser Schwellenwert würde um das Jahr 2080 herum erreicht werden. Dann, so behauptete er, würden sie natürlich ihre eigenen Vorstellungen von Regierungsführung durchsetzen wollen, in Übereinstimmung mit ihren religiösen Geboten, und die christlichen und jüdischen Bewohner des Kontinents unterjochen. Ins Jahr 2083 fällt, wie es der historische Zufall will, auch der 400. Jahrestag der Schlacht am Kahlenberg, mit der die zweite Belagerung Wiens beendet und der Vormarsch des Osmanischen Reiches in Richtung Mitteleuropa von einer vereinigten christlichen Streitmacht gestoppt wurde. Breiviks Manifest vertrat die Ansicht, Europa sehe sich jetzt einem ähnlichen Angriff gegenüber, und rief zu einer Wiederholung jener Schlacht auf.
    Nach seiner Vorstellung sollten seine Attacken in Oslo und auf Utøya die Eröffnungssalve in diesem größeren Krieg sein, ein pseudowagnerianischer Ruf zu den Waffen für Mitstreiter in der Auseinandersetzung mit denjenigen, die »Eurabien« Wirklichkeit werden ließen. Seine ersten Ziele, ausgewählt nach der angestrebten maximalen Wirkung, mit der ein muslimischer Angriff abgewehrt werden könnte, waren die Menschen, die er als »Verräter der Kategorie A und B« bezeichnete: die Politiker, die muslimische Einwanderung zuließen und aktiv dazu ermutigten, die »selbstmörderischen Humanisten« und die »weltweit tätigen Kapitalisten«, die die Anwesenheit von Muslimen in Europa duldeten. Durch die Ermordung jugendlicher Mitglieder der Arbeiterpartei hoffte er eine Generation toleranter Politiker auszulöschen. (In Wirklichkeit betreibt Norwegen unter den europäischen Ländern eine eher strenge Einwanderungspolitik und hat auch eine der kleinsten muslimischen Gemeinden Europas.)
    Gegen Ende seines Dokuments lieferte Breivik den Textvorschlag für seine Verteidigung vor Gericht: »Die Menschen, wegen deren Exekution ich rechtswidrig angeklagt werde, sind allesamt Verräter der Kategorie A und B«, schrieb er. »Sie unterstützen die unter der Bezeichnung Multikul turalismus bekannte antieuropäische Hassideologie, eine Ideologie, welche die Islamisierung und die islamische demo grafische Kriegführung erleichtert. Die von mir exekutierten Verräter der Kategorie A und B wurden in Notwehr durch einen Präventivschlag getötet. Sie wurden des Hochverrats für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. […] Mir muss der Nachweis gestattet werden, dass ich diese Verräter exekutierte, um zu verhindern, dass sie weiterhin zu den fort dauernden Prozessen des kulturellen und demografischen Völkermords und der Auslöschung beitragen.«
    Dieser Text war haarsträubend. Ein großer Teil des Dokuments schien jedoch verblüffend normal und auf irritierende Art vertraut zu klingen, wenn man erst einmal damit anfing, sich durch die üppigen pseudomittelalterlichen Verschnörkelungen hindurchzuwühlen. Die gewalttätige Sprache und die Beschwörung einer neuen »Tempelritter«-Armee in den Schlussabschnitten waren natürlich untrügliche Kennzeichen eines ausgeprägten Extremismus und einer denkbaren Geisteskrankheit. Aber auf dem Weg zu jenem Sprung ins kriminell Absurde war Breivik einer Denkweise gefolgt, die im Jahr 2011 bereits zum gesellschaftlichen Mainstream geworden war – zu einem argumentativen Muster, das mindestens schon seit einem Jahrzehnt seinen Niederschlag auf den Bestsellerlisten und Blogseiten, in Kommentaren und Leitartikeln der Druckmedien sowie bei den 24-Stunden-Nachrichtensendern in Europa und Nordamerika gefunden hatte. Der Kern seines Manifests ist ein überlanger Mischmasch von Ausschnitten aus Büchern, Zeitungskolumnen und Blogs von Autoren, die sehr bekannte Persönlichkeiten der Medienwelt in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Kanada und den Vereinigten Staaten sind. Breivik ersann kein einziges neues Argument, er schnitt nur fremdes Gedankengut aus, klebte es zusammen und zog seine eigene, gewalttätige Schlussfolgerung daraus.
    Hier, in diesem von einem Terroristen zusammengestellten Manuskript, fand sich die Geschichte einer Idee. Auf diesen Seiten konnte die Vorstellung von der »muslimischen Flut« nachverfolgt werden, von ihrem ersten Auftauchen in randständigen Veröffentlichungen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts über ihren Aufstieg in immer weniger obskuren Büchern und Filmen in den Jahren nach der Jahrtausendwende bis in die Machtzentralen der europäischen und amerikanischen Politik. Eine große
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