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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht
Autoren: Nancy Kilpatrick
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alleine spazieren gegangen?«
    »Ich konnte nicht schlafen. Es war eine laue Nacht.«
    »Gehen Sie nachts oft allein spazieren?«
    »Manchmal schon.«
    »In gefährlichen Hafenvierteln?«
    »Ich wusste nicht, dass es gefährlich ist. Es heißt, dies sei eine sichere Stadt. Zumindest steht das in meinem Reiseführer.«
    LePage schnaubte. »Sagen Sie mir, Mademoiselle Robins, was führt Sie nach Bordeaux?«
    »Ich mache Urlaub!«, erwiderte Carol ausweichend. Sie hatte nicht vor, ihre Lebensgeschichte vor diesem Mann auszubreiten.
    »Um diese Jahreszeit? Die meisten Touristen kommen im Sommer zu uns, wenn das Wetter schön ist. Oder im Herbst zur Weinlese.«
    »Ich mache mir nichts aus jungem Wein.«
    LePage seufzte. »Sie haben also gesehen, wie dieser Mann, der sich André nannte, den Zimmermann attackierte?«
    »Ja, das habe ich Ihnen doch alles schon gesagt. Er beugte sich über den alten Mann, bog ihm den Körper etwas nach hinten und hat ihm dabei wahrscheinlich das Genick oder das Rückgrat gebrochen. Dann...«
    »Mademoiselle, haben Sie eine Vorstellung davon, welche Kraft man aufbringen müsste, um einem Mann mit bloßen Händen das Rückgrat zu brechen?«
    »Das ist mir klar. Aber es war dunkel, und ich erzähle Ihnen lediglich, was ich gesehen habe!«
    »Fahren Sie fort!«
    »Danach gab der Mann, der Zimmermann, wie Sie sagen, keinen Mucks mehr von sich!«
    »Demnach hat er also bis kurz vor dem Zeitpunkt, an dem ihm der Körper nach hinten gebogen wurde, geredet oder zumindest irgendwelche Laute von sich gegeben?«
    »Nein, ich bin mir nicht sicher. Es ging alles so schnell. Ich glaube, er war schon tot.«
    »Und wenn ich Ihnen sage, dass der Zimmermann weder ein gebrochenes Genick noch ein gebrochenes Rückgrat hat?«
    Carol blickte ihn zwei, drei Sekunden lang verdutzt an. Dann sagte sie: »Ich habe nicht gesagt, dass er ihm etwas gebrochen hat. Ich sagte, er habe ihm wahrscheinlich das Genick oder das Rückgrat gebrochen.«
    Der Polizist seufzte und fuhr sich mit der Hand durch sein ergrauendes Haar, während sie weitererzählte: »Dann riss der Mörder den Mund auf und biss den Zimmermann in den Hals, wie ein Tier. Und die ganze Zeit über ließ er mich nicht aus den Augen!« Bei dem Gedanken daran überlief sie unwillkürlich ein Schauder.
    Der Inspektor ließ sein Notizbuch sinken. »Sagen Sie, Mademoiselle, waren Sie kürzlich im Kino?«
    »Was wollen Sie damit andeuten?«
    »Nun, ich frage mich, ob Sie in letzter Zeit vielleicht irgendwelche ... Filme gesehen haben, Cinema Fantastique beispielsweise.«
    »Ich weiß, das Ganze klingt verrückt, wie aus Dracula. Aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich kann doch nicht so tun, als sei irgendetwas anderes passiert. Ich habe gesehen, wie er den alten Mann gebissen hat, dessen bin ich mir hundertprozentig sicher. Ich habe keine Ahnung, ob er ihm das Blut ausgesaugt oder sonst was getan hat. Aber ich weiß, was ich sage!«
    Inspektor LePage seufzte abermals, steckte sein Notizbuch in die Jackentasche und zündete sich eine neue Zigarette an, ehe er seine aufgerauchte Kippe fallen ließ und austrat. Beinahe müde ergriff er sie am Arm. »Nun gut, Mademoiselle. Einer meiner Beamten wird Sie in Ihr Hotel begleiten. Die Stadt dürfen Sie vorerst natürlich nicht verlassen. Sie werden auf der Direktion erscheinen müssen, um Ihre Aussage zu unterzeichnen. Möglicherweise habe ich dann noch weitere Fragen.«
    Er führte sie über die Straße zu einem Streifenwagen und hielt ihr die Fondtür auf. Als sie einstieg, sagte er: »Noch etwas. Da der Täter ihr Gesicht kennt, ist es durchaus möglich, dass Sie sich in Gefahr befinden. Ich werde einen Beamten in Ihrer Nähe postieren.«
    »Sie meinen, Sie wollen mich überwachen?«
    »Lediglich zu Ihrem eigenen Schutz! Und, Mademoiselle, bitte keine weiteren nächtlichen Spaziergänge mehr!«
    Damit schlug er die Tür zu, und der Fahrer trat aufs Gas.

2
     Am folgenden Tag wurde Carol noch einmal von der Polizei vernommen. Sie erschienen bei ihr im Hotel und riefen noch mehrmals an, um ein paar Einzelheiten zu klären. Vor allem Inspektor LePage schien ihr von Mal zu Mal weniger zu glauben. Es kam ihr so vor, als wolle er nur Zeit verstreichen lassen, um den Fall endlich zu vergessen. Er ließ sie im Dunkeln, stellte jede Menge Fragen und gab selbst kaum Antworten. Er teilte ihr lediglich mit, dass der Autopsiebericht unvollständig sei und sie noch niemanden
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