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Die Doppelgängerin

Die Doppelgängerin

Titel: Die Doppelgängerin
Autoren: Stefan Wolf
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1. Gemeine Erpressung
     
    Nach dem Mittagessen verebbte der Lärm
im Haupthaus der Internatsschule. Die meisten Schüler fuhren in die Stadt; die
sportlichen entschieden sich für Schwimmen oder Fußball, die trägen lagen in
ihren Buden auf den Betten.
    Tarzan wollte einen Brief an seine
Mutter schreiben und lief die vier Treppen zum ADLERNEST hinauf. Dort, in der
kleinsten Bude vom Obergeschoß, saß Klößchen auf dem Fensterbrett. 50 Meter
Nylonseil lagen aufgerollt zu seinen Füßen. Ein Stück hielt er zwischen den
Händen. Er zerrte mit Leibeskräften daran — offenbar, um die Haltbarkeit zu
prüfen.
    „Ist dir ein Schnürsenkel gerissen?“
fragte Tarzan. „Den kannst du von mir haben.“
    Klößchen schüttelte den Kopf. Antworten
konnte er nicht. Sein Mund war vollgestopft. Ein Stück Schokolade sah noch
hervor.
    Nachdem er gekaut und geschluckt hatte,
flüsterte er: „Pst! Ich will doch die Strickleiter reparieren.“
    Tarzan bückte sich und sah unter beide
Betten.
    „Kannst laut sprechen. Bis jetzt hat
sich kein Pauker eingeschlichen. Es sei denn, es sitzt einer im Schrank.“
    „Ach, du! Dir ist es wohl egal, ob ich
abstürze wie ein Alpinist aus der Eiger-Nordwand.“
    „Aber nein!“ lachte Tarzan. „Es wäre in
der Tat bestürzend, wenn du abstürzend einen Bergunfall erleidest — zwischen
Schulhof und zweiter Etage am Seitentrakt des Hauptgebäudes. Ist unser
Fluchtinstrument denn wirklich kaputt?“
    „Ganz dünn gescheuert zwischen Sprosse
sieben und acht“, nickte Klößchen. „Bei unserem nächsten nächtlichen Ausflug
hätte das Unglück eine Chance.“
    „Na, dann werden wir die deutsche
Wertarbeit flicken.“
    „Meine Strickleiter“, sagte Klößchen, „wurde
im Ausland hergestellt. Aber Fehler bei der Fertigung passieren hier wie dort.“
    Die Strickleiter war ein Geheimnis der
beiden Freunde und sonst nur noch den anderen Mitgliedern der TKKG-Bande
bekannt: Gaby und Karl. Die Hausordnung des Internats bestimmte: Nach 21 Uhr
dürfen Schüler unter 14 Jahren ihren Schlaftrakt im Hauptgebäude nur im Notfall
verlassen. Unter Notfall verstand man Feuer, Erdbeben oder Einsturzgefahr.
    Um die Schüler nicht zu überfordern,
wurde der Versuchung zum nächtlichen Ausflug ein Riegel vorgeschoben — buchstäblich.
Mit dem Glockenschlag 21 Uhr sperrte Hausmeister Mandl alle Türen im Erdgeschoß
ab. An die Fenster kam ohnehin niemand ran — sie gehörten zu den Diensträumen
der Lehrer oder zu Klassenzimmern.
    Ab 21 Uhr gefangen, eingekerkert?
Tarzan und Klößchen fanden das empörend, hatten einen Fluchtweg durchs
Flurfenster des zweiten Stocks erkundet und sich technisch ausgerüstet. Für den
sportlichen Tarzan genügte ein Seil, um hinauf- und hinunterzuklettern. Aber
Klößchen, der dicke Gemütsbrocken, benötigte eine Strickleiter.
    Versteckt war sie auf dem Speicher,
dort auf einem Balken in hinterster Ecke.
    „Reparieren wir’s hier?“ fragte
Klößchen.
    Tarzan nickte. „Die ganze Etage ist
ausgeflogen. Und wenn ein Pauker kommt — das hören wir rechtzeitig.“
    „Dann will ich sie mal holen.“ Klößchen
nahm seinen blaugestreiften Bademantel vom Haken. „Ist besser, daß ich sie
einwickele — falls mir jemand begegnet.“
    Eine Minute später hörte Tarzan, wie
sein dicker Freund die Holzstufen der Speichertreppe herunterpolterte.
    Die Tür flog auf. Klößchen stürmte
herein, den Bademantel zur Hälfte um den Hals geschlungen, von der anderen
Hälfte wie mit einer Toga (altrömisches Gewand) bedeckt.
    Sein tomatenrotes Gesicht bebte vor
Zorn. In der Hand schwenkte er einen zerknitterten Zettel.

    „Und wo hast du die Strickleiter?“
fragte Tarzan.
    „Sie... sie... ist weg! Verschwunden!
Gestohlen! Entwendet! Nur das lag auf dem Balken.“
    Wieder schwenkte er den Zettel, als
sollte ein Papierflugzeug absegeln.
    Tarzan pflückte ihn aus Klößchens
zornigen Fingern. Der Zettel war beschrieben. Blaue Tinte. Druckbuchstaben.
    Der Text lautete: Wem auch immer die
Strickleiter gehört — sie wird für verbotene Zwecke benutzt. Wir fordern 100
Mark Auslösungssumme. Dann legen wir die Strickleiter auf den Balken zurück.
Das Geld ist hinter dem Briefkasten an der St.-Irmengard-Mädchenschule in der
Stadt zu verstecken. Erst nach Erhalt kommt die Strickleiter zurück. XY
    „Erpressung!“ keuchte Klößchen. Dann
stampfte er auf. „Pfui! Das ist gemein!“
    „Ich kann’s kaum glauben“, sagte Tarzan
durch die Zähne. „Da ist also ein Mistkerl unter uns,
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