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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht
Autoren: Nancy Kilpatrick
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erwehren.
    Laut schreiend und wild mit den Armen rudernd sprang sie auf in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit von irgendjemandem oben auf der Brücke zu erregen, wo sich der Verkehr Stoßstange an Stoßstange vorwärts wälzte. Doch die Beleuchtung im Hafengebiet war so dürftig, dass niemand sie sah, und ihre Schreie gingen im Lärm der Motoren unter.
    Der ältere Mann hatte dem jüngeren, größeren nichts entgegenzusetzen. Sie musste ihm zu Hilfe eilen. Sie trommelte ihrem Angreifer mit den Fäusten auf den Rücken und zog ihm ihre Handtasche über den Kopf. Noch während sie zu dritt miteinander rangen, schrie der alte Mann einmal kurz auf, und sie sah seinen Körper erschlaffen.
    Carol erstarrte. Sie wich ein paar Schritte zurück. In der nun folgenden durchdringenden Stille legte sich der Mann, der sich ihr als André vorgestellt hatte, den Alten zurecht und bog ihm den Kopf nach hinten, sodass die Kehle frei lag. Andrés Gesicht, bleich und angespannt, schien geradezu aus dem Dunkel zu wachsen. Als er den Mund öffnete, sah Carol seine Schneidezähne funkeln. Sie wirkten scharf wie Rasierklingen.
    Mit einem Mal senkte er die Lippen zu einem beinahe erotischen Kuss auf die ungeschützte Kehle des Alten. Andrés Augen suchten die ihren und hielten sie fest. Es war, als gehe eine unsichtbare Kraft von ihnen aus. Sie konnte den Blick nicht abwenden.
    Instinktiv schloss sie die Augen, presste sie regelrecht zusammen, dennoch lauschte sie wie gebannt dem lauten Saugen und Schmatzen und vermochte sich vor Entsetzen nicht zu rühren. Ihr Überlebenstrieb gewann jedoch die Oberhand. Stück um Stück schob sie sich zurück, und mit jedem Schritt entzog sie sich dem Bann, der sie gefangen hielt.
    Als sie sich weit genug entfernt hatte, um sich vergleichsweise sicher zu fühlen, wandte sie sich um und rannte schreiend in Richtung Straße.
    »Mademoiselle Robins, bitte beschreiben Sie den Mann, der Sie angegriffen hat, noch einmal«, bat Inspektor LePage und schlug mit einer geübten Handbewegung ein neues Blatt seines Notizblocks auf. In den zwei Stunden, seit der Mord begangen worden war, waren Lampen aufgestellt und der Leichnam untersucht und aus allen möglichen Blickwinkeln fotografiert worden. Es wimmelte nur so von Polizisten, Reportern und Schaulustigen, und Carol hatte diese Frage bereits zehnmal beantwortet. Furcht und Trauer hatten sich die Waage gehalten, bis sie schließlich in eine tiefe Depression sank. Zu guter Letzt fühlte sie gar nichts mehr.
    »Hören Sie, ich habe Ihnen doch schon gesagt, wie er aussieht und was passiert ist. Ich möchte zurück in mein Hotel! Ich kann nicht mehr!«
    »Noch einmal, Mademoiselle!«
    Carol seufzte. Sie war mit den Nerven am Ende. Nicht allein, dass sie soeben erst mit knapper Not dem Tod entronnen war. Nein, der alte Mann war tot und sie immer noch am Leben, weil er für sie gestorben war. Sie wusste, dass sie in Zukunft nur noch voller Schuldgefühle an den grauenhaften Mord denken und eine lange Zeit brauchen würde, bis sie darüber hinwegkam. Im Moment jedoch wollte sie nur eines - zurück in ihr Zimmer und allein sein.
    »Er war groß, um die eins achtzig, und kräftig gebaut. Schwarze Haare, an den Schläfen weiß, graue Augen. Blasse Gesichtsfarbe, große Zähne. Er trug eine schwarze Jacke und schwarze Hosen, beides aus Leder. Dazu ein dunkles Hemd und schwarze Schuhe, ziemlich teure Schuhe. Wissen Sie, eine dieser unmöglichen Kombinationen, die gerade in sind. Er war gut zehn Jahre älter als ich, fünfunddreißig, und sprach Französisch, aber sein Englisch war auch sehr gut. Er sagte, sein Name sei André.«
    »Erinnern Sie sich an sein Gesicht?«
    »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, so genau habe ich ihn mir nicht angesehen.«
    »Immerhin haben Sie eine Viertelstunde mit ihm in einem Café verbracht.«
    »Eher fünf Minuten. Außerdem habe ich gelesen. Ich habe ihn nur an meinem Tisch Platz nehmen lassen, weil sonst nichts mehr frei war.«
    Der Kriminalbeamte in dem zerknitterten braunen Jackett war nicht sehr groß und untersetzt. Ungerührt machte er seine Notizen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Carol hatte den Verdacht, dass ihn dies alles überhaupt nicht interessierte, sondern dass er es nur routinemäßig niederschrieb, weil es zu seinem Job gehörte, sein Notizbuch zu füllen. Außerdem hatte sie das ungute Gefühl, dass er sie nicht ganz ernst nahm.
    »Und weshalb sind Sie so spät noch
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