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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44
Autoren: Tom Rob Smith
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und eine Nachtschicht, deshalb bezweifelte Leo, dass jemand in ihm einen Fremden erkennen würde. Ruhig und zielstrebig, so als gehöre er hierhin, näherte er sich dem größten Gebäude. Zwei Männer kamen heraus und strebten rauchend dem Haupttor zu. Vielleicht war ihre Schicht zu Ende. Sie sahen ihn und blieben stehen. Leo konnte sie nicht ignorieren, also winkte er und ging auf sie zu.
    »Ich bin Tolkatsch und arbeite für die Automobil-Fabrik in Wualsk. Eigentlich hätte ich schon viel früher ankommen sollen, aber mein Zug hatte Verspätung. Wo ist das Verwaltungsgebäude?«
    »Die Verwaltung hat kein eigenes Gebäude. Die Zentrale ist da drinnen, auf einem der oberen Stockwerke.
    Ich bringe Sie hin.«
    »Ich finde es schon allein.«
    »Ich habe keine Eile, nach Hause zu kommen. Ich bringe Sie hin.«
    Leo lächelte. Ausschlagen konnte er das nicht. Die zwei Männer verabschiedeten sich voneinander, und Leo folgte seinem ungebetenen Führer in die Hauptmontagehalle.
    Als er eintrat, vergaß er für einen Moment, warum er gekommen war. Die schiere Größe, die hohe Decke, der Lärm der Maschinen – all das kam einem wie ein Wunder vor, das man eigentlich in einer religiösen Stätte erwartet hätte. Aber dies war ja auch die neue Kirche, die Kathedrale des Volkes, und die Ehrfurcht, die man in ihr empfand, war fast so wichtig wie die Maschinen, die sie erschuf. Leo und der andere Mann gingen Seite an Seite und plauderten. Mittlerweile war Leo froh über seine Begleitung, denn so erregte er keinen Verdacht.
    Er fragte sich bloß, wie er den Mann wieder loswerden sollte.
    Sie nahmen die Treppe von der Montagehalle hinauf in die Verwaltungsetage. Der Mann sagte:
    »Ich weiß nicht, wie viele Leute noch da sind. Da oben haben sie normalerweise keine Nachtschicht.«
    Leo wusste immer noch nicht genau, was er als Nächstes machen sollte. Würde er seine Täuschung bis zum Ende aufrechterhalten können? Unwahrscheinlich, wenn man bedachte, was für vertrauliche Informationen er brauchte. Die würden sie ihm nicht einfach so geben, egal, mit was für einer Ausrede er ihnen kam.
    Wenn er noch seinen Dienstausweis von der Staatssicherheit gehabt hätte, wäre das alles kein Problem gewesen.
    Sie bogen um eine Ecke. Ein Korridor führte zu einem Büro, von dem aus man die Montagehalle überblicken konnte. Was auch immer er anstellte, die Arbeiter da unten würden ihn sehen können. Der Mann klopfte an die Tür. Jetzt hing alles davon ab, wie viele Leute sich dort drinnen befanden. Ein älterer Mann öffnete, vielleicht ein Buchhalter. Er trug einen Anzug, war blass und hatte einen verbitterten Gesichtsausdruck. »Was wollen Sie?«
    Leo spähte über die Schulter des Buchhalters. Das Büro war leer.
    Er wirbelte herum und schlug seinem Begleiter in den Magen, worauf dieser zusammenklappte. Noch bevor der Buchhalter Zeit hatte zu reagieren, umklammerte Leo schon mit einer Hand seinen Hals. »Tun Sie, was ich sage, dann passiert Ihnen nichts. Verstanden?«
    Der Mann nickte. Vorsichtig ließ Leo seinen Hals los.
    »Ziehen Sie alle Vorhänge zu, und nehmen Sie ihren Schlips ab.«
    Leo zog den jüngeren Mann, der immer noch röchelte, hinein. Er machte die Tür zu und verschloss sie hinter sich. Der Buchhalter nahm seinen Schlips ab und warf ihn Leo hin, dann zog er die Vorhänge zu, sodass die Montagehalle nicht mehr zu sehen war. Mit dem Schlips band Leo dem jungen Mann die Hände hinter dem Rücken zusammen und behielt dabei den Buchhalter im Auge. Er bezweifelte, dass es hier im Büro eine Waffe oder einen Alarmknopf gab, es war ja nichts da, was sich zu stehlen lohnte. Nachdem er die Gardinen zugezogen hatte, wandte sich der Mann wieder zu Leo um. »Was wollen Sie?«
    »Die Personalakten.«
    Verblüfft, aber gehorsam schloss der Mann den Aktenschrank auf. Leo trat vor und stellte sich neben ihn.
    »Bleiben Sie da, rühren Sie sich nicht von der Stelle und behalten Sie die Hände auf dem Schrank!«
    Es gab Abertausende von Akten, eine lückenlose Dokumentation nicht nur der gegenwärtigen Belegschaft, sondern auch aller Leute, die nicht mehr hier arbeiteten. Tolkatschi gab es offiziell gar nicht, da ihre bloße Existenz ja schon auf Fehler im Liefer- und Produktionsprozess hingewiesen hätte. Es war unwahrscheinlich, dass man sie unter diesem Begriff führte. »Wo sind die Akten Ihrer Tolkatschi?«
    Der ältere Mann zog einen Karteikasten hervor und holte eine dicke Akte heraus. Auf dem Deckel stand MARKTFORSCHER. Soweit
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