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Killerspiel

Killerspiel

Titel: Killerspiel
Autoren: Michael Marshall
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Versuch, mir Klarheit darüber zu verschaffen, wer an welchem Punkt jeweils die treibende Kraft hinter den Ereignissen gewesen war. Ich konnte nicht klar denken. Ich hatte lange nichts mehr gegessen und war erschöpft. Ich hatte gesehen, wie Menschen getötet wurden, und ich hatte gesehen, was danach mit ihnen geschah, ohne im Geringsten zu verstehen, wieso. Zuerst stellte Steph Fragen, wenn auch nicht viele, und mit einer Stimme, die immer müder klang. Nach einer Weile verstummte sie, und ich redete einfach weiter, um das Puzzle irgendwie zusammenzufügen, und ich war froh, dass sie mir Gelegenheit dazu gab und mich gewähren ließ. Manchmal braucht man genau das bei seiner Familie, jemanden, der einen einfach gewähren lässt, jemanden, um den man seine Gedanken und Hoffnungen kreisen lassen kann wie um einen Fixpunkt. Es dauerte eine ganze Weile – genauer gesagt, bis ich in South Carolina mitten in der Nacht zum Tanken hielt –, bevor ich registrierte, dass sie eingeschlafen war.
    Als ich vollgetankt hatte, stieg ich wieder ein, legte eine Decke über sie und nahm dann meine Selbstgespräche hinter dem Lenkrad wieder auf. Ich fuhr die ganze Nacht durch, bis in die Wälder von Kentucky, und überlegte, wie lange wir so etwas nicht mehr getan hatten: einfach nur zusammen unterwegs sein, ohne Erledigungsliste, ohne einen Fünf-Jahres-Plan. Eine Welt ohne Mauern und Wände. Irgendwann nahm der Himmel eine zarte Tönung an, und der Wald zu beiden Seiten der Straße verwandelte sich vom schwarzen Einerlei in eine endlose Phalanx von Stämmen und Kronen. Ich versuchte, etwas Metaphorisches darin zu sehen, doch ich war so müde, dass ich zu keinem schlüssigen Gedankengang mehr fähig war. Inzwischen hatte ich aufgehört zu reden und mich damit zufriedengegeben, weiterzufahren, während Steph neben mir schlief.
    Egal, was ich alles über die letzten fünf Tage zu sagen hatte, letztlich lief es auf ein und dasselbe hinaus. Wir hatten alles verloren, was wir im Leben gehabt hatten. Es gab Menschen, die versuchten, mir die schlimmsten Dinge anzuhängen, mindestens einen Cop, der bereit war, dabei zu helfen, und einen erdrückenden Haufen »Beweise«. Also war alles verloren – alles, außer uns beiden. Nach zehn Jahren, in denen wir Gepäck angehäuft, in denen wir Geld verdient und Schicht um Schicht unser Leben aufgebaut hatten, bis die Wertsteigerung der äußeren Schale zwischen uns stand, waren wir wieder auf uns selbst zurückgeworfen, nackt, wie wir gekommen waren – und absurderweise fühlte es sich irgendwie gut an. Es kam mir so vor, als hätte ich mir das schon immer gewünscht, damals, als ich noch wusste, wer ich wirklich war und wer ich sein wollte. Man setzt einen Schritt vor den nächsten, ein Wort führt zum anderen, und es erscheint einem nur logisch – bis man eines Tages den Kopf hebt und merkt, dass man sich in einer Zukunft verirrt hat, die man nicht versteht, an einem Ort ist, an den man nie wollte und den man nicht wiedererkennt. Das war mit uns passiert, in erster Linie mit mir. Man steht morgens auf, sieht in den Spiegel und stellt fest, dass einem ein Fremder entgegenblickt, man putzt sich die Zähne, lächelt sich zu, und wenn man den Raum verlässt, ist das Spiegelbild verschwunden, weil man mit dem Fremden eins geworden ist.
    Was macht man nun, wenn man erkennt, dass genau das passiert ist? An den Anfang zurückkehren und von vorn anfangen? Das ist unmöglich. Die Zeit kennt nur eine Richtung, alle Flüsse strömen ins Meer, und so rackern wir weiter, schreiben ohne Punkt und Komma an unserem Leben und hoffen, dass wir es früher oder später wieder auf eine Spur bringen, die uns vertraut erscheint. Doch dazu kommt es nie. Wir sterben einfach, und im Tod werden dann die Zusammenhänge sichtbar. Alles ergibt in dem Moment einen Sinn, in dem wir das Buch über uns zuklappen.
    Genau das geschah, auf Gedeih und Verderb.
    Ich bin durch.
    Leb wohl.
    Am Ende, kurz nach sechs Uhr morgens, war ich zu müde und hungrig, um weiterzufahren. Es erschien mir wie ein Zeichen, als ich in der Ferne das große gelbe M einer Fastfood-Kette erspähte, die Stephanie und ich unser ganzes gemeinsames Leben lang immer wieder besucht hatten. Es war ein
bedeutsames
Zeichen, und ich bemerkte erst, dass mein Gesicht nass war, als ich auf dem Parkplatz hielt. Ich saß da und sah zu den goldenen Bögen auf, als wären sie das Tor zum verheißenen Land.
    »Hey«, sagte ich zärtlich. »Sieh mal, was wir gefunden
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