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Keraban Der Starrkopf

Keraban Der Starrkopf

Titel: Keraban Der Starrkopf
Autoren: Jules Verne
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Storchi!«
    Ueberall rief man einander diese Worte zu.
    Ahmet und Amasia, Selim und Nedjeb, Sarabul, Van Mitten und Yanar, sowie Bruno und Nizib befanden sich an der Ecke, welche der Quai des Goldenen Hornes an der Landungstreppe von Top-Hane bildet, und sie konnten bequem sehen, welch aufregendes Schauspiel hier der neuigkeitslüsternen Menge geboten wurde.
    Ueber der Wasserfläche des Bosporus erhebt sich, ungefähr sechshundert Fuß vom Ufer Scutaris, ein Thurm, den man fälschlich den Leanderthurm nannte. In Wirklichkeit durchmaß der berühmte Schwimmer nämlich den Hellespont, d. h. die eigentliche Meerenge der Dardanellen zwischen Sestos und Abydos, um seine Hero, die reizende Priesterin der Venus, zu besuchen – ein Unternehmen, das vor ungefähr sechzig Jahren von Lord Byron nachgeahmt wurde, der so stolz, wie es nur ein Engländer sein kann, darüber war, die zwölfhundert Meter Entfernung zwischen beiden Ufern binnen einer Stunde und zehn Minuten schwimmend zurückgelegt zu haben.
    Sollte diese Großthat einer Schwimmfahrt über den Bosporus etwa von einem Liebhaber wiederholt werden, dem der Ruhm des mythologischen Helden und der des Verfassers des »Korsaren« keine Ruhe ließ? – Nein.
    Zwischen dem Ufer Scutaris und dem Leanderthurm – der neuerdings übrigens den Namen Keuz Kulessi, d. i. Thurm der Jungfrau, führt, war ein langes Seil ausgespannt. Hier hatte dasselbe einen festen Stützpunkt und verlief dann in einer Länge von dreizehnhundert Metern über die ganze Meerenge, sein Ende aber war an einem, auf der Ecke des Quais von Galata und des Top-Hane-Platzes errichteten soliden Holzgerüst befestigt.
    Auf diesem Seile wollte ein bekannter Akrobat, der berühmte Storchi – ein Nebenbuhler des nicht minder berühmten Blondin – versuchen, den Bosporus zu überschreiten. Blondin freilich setzte, als er auf dem Seile über den Niagara ging, unbedingt das Leben auf’s Spiel, wenn er aus einer Höhe von nahezu hundertfünfzig Fuß in die unwiderstehlichen Stromschnellen gestürzt wäre, während Storchi hier bei einem etwaigen Unfalle mit einem Untergetauchtwerden in das stille Wasser des Bosporus davonkommen mußte, aus dem er sich sicherlich, ohne Schaden genommen zu haben, retten konnte.
    Doch eben wie Blondin seine Ueberschreitung des Niagara so ausführte, daß er einen waghalsigen Freund auf seinen Schultern trug, wollte auch Storchi den lustigen Steg mit einem andern Akrobaten beschreiten, freilich diesen nicht auf den Schultern tragen, sondern in einem Karren fahren, dessen am Umfange hohlkehlenartig ausgearbeitetes Rad mit größerer Sicherheit längs des Seiles hinrollen mußte.
    Man wird zugeben, daß es sich hier um ein merkwürdiges Schauspiel handelte – ein dreizehnhundert Meter langer Weg statt dessen von neunhundert Fuß über den Niagara! Eine lange Strecke, bei der ein Abstürzen gar so leicht möglich schien.
    Storchi war inzwischen auf dem ersten Theile des Seiles erschienen, welcher das asiatische Ufer mit dem Thurme der Jungfrau verband. Er schob seinen Begleiter im Karren vor sich her und gelangte ohne Unfall nach dem Leuchtapparate auf der Spitze des Keuz-Kulessi.
    Ein tausendfaches Hurrah begrüßte diesen ersten Erfolg.
    Dann sah man den Gymnastiker wieder mit großer Gewandtheit abwärts gehen auf dem ungeheuren Seile, welches trotz stärkstmöglicher Anspannung sich in der Mitte doch so weit nach unten ausbog, daß es fast die Wasserfläche des Bosporus berührte. Immer schob er seinen kühnen Begleiter im Karren vor sich her, schritt sicheren Fußes weiter und hielt sich mit bewundernswerther Geschicklichkeit im Gleichgewicht. Es war in der That prächtig anzusehen.
    Als Storchi die Hälfte der schwindelnden Wegstrecke zurückgelegt, wurden die Schwierigkeiten nur größer, denn es handelte sich nun darum, den letzten Theil noch emporzusteigen, um nach dem oberen Theile des Balkengerüstes zu gelangen. Die Muskeln des Akrobaten erwiesen sich jedoch kräftig, seine Arme und Beine leisteten die erstaunlichsten Dienste, und er schob immer den Karren vor sich her, in dem sein Gefährte regungslos, aber offenbar ohne Angst saß, obgleich er natürlich in derselben Gefahr schwebte, wie der Seiltänzer. Irgend welche Bewegung machte er aber nicht, um das so leicht schwankende Gleichgewicht des Karrens nicht zu gefährden.
    Endlich ertönten helle Jubelrufe wie ein Schrei der Erleichterung aus der vorher doch etwas beklemmten Brust der Zuschauer.
    Heil und gesund war
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