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Kellerwelt

Kellerwelt

Titel: Kellerwelt
Autoren: Niels Peter Henning
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wussten, doch sie waren bereits gestraft genug.
    Auch in den Korridoren traf
er immer wieder auf Menschen. Nicht selten kam es dann zu Scharmützeln. Einen
anderen Mann in Schwarz oder einen weiteren Entsorger traf er nicht. Deswegen
überlebte er diese Scharmützel - im Gegensatz zu den Streunern, die glaubten,
sich mit ihm anlegen zu können. Nichts als Kühe mit übersteigerter Aggression.
    Irgendwann hörte er auf,
über sich oder seine Identität nachzudenken. Es machte keinen Sinn. Welche
Frage er auch stellte, sein Gedächtnis antwortete nicht darauf. Allmählich
vermutete er, seine Erinnerungen seien dauerhaft gelöscht worden. Er dachte
auch nicht mehr über den Keller oder dessen Erbauer nach. Antworten auf solche
Fragen würde er erst erhalten, wenn er einem der Erbauer begegnete oder die
Gelegenheit erhielt, den Keller von außen zu betrachten. Wozu also die Zeit mit
solchen Fragen verschwenden?
    Dennoch sackte sein
Gemütszustand von Zeit zu Zeit durch. Dann legte sich der Gedanke, bis zu
seinem Lebensende in diesem Keller gefangen zu sein, wie ein Bleigewicht auf
seine Schultern und drückte ihn zu Boden. Bei solchen Tiefpunkten hatte er
nicht selten mit dem Gedanken gespielt, den gleichen Ausweg zu wählen, den auch
das Panzerchen gewählt hatte. Doch dann führte er sich vor Augen, dass sein
Leben im Grunde genommen nicht schlecht verlief. Es fehlte ihm an nichts. Was
immer er benötigte, er fand es. Außerdem gab es niemanden, der sich ihm in den
Weg stellen konnte.
    Und er hatte keine Angst.
    Irgendwann, während seiner
Wanderung durch die Korridore, drohte er erneut in ein solches Stimmungstief zu
rutschen. Auslöser hierfür war die Frage, wie oft er inzwischen hier drin
geschlafen hatte - und wie oft er noch hier drin schlafen würde. Gerade, als
die Hoffnungslosigkeit wieder auf leisen Sohlen in seine Gedanken schlich, sah
er das Schild.
    Ein kleines Kästchen, direkt
unter der Decke. Grüne Farbe. Irgendwann mochte das Ding einmal illuminiert gewesen
sein, doch die Glühbirne hatte inzwischen ihr Leben ausgehaucht. Das weiße
Strichmännchen, das auf ein weißes Rechteck zulief, konnte er dennoch klar
erkennen. Und er erkannte das Symbol.
    Ausgang.
    Eigentlich hätte ihn dieser
Anblick aus der Fassung bringen müssen. Was hätte er alles empfinden müssen:
Freude, Aufregung, Erleichterung. Das volle Spektrum positiver Gefühle. Doch
stattdessen beschleunigte sein Puls noch nicht einmal um einen Schlag. Er
verspürte nichts weiter als leichte Neugierde.
    Also wandte er sich in die
Richtung, in die auch das kleine, weiße Strichmännchen lief. Dort fand er eine
Tür, die er vorsichtig öffnete. Dahinter wartete ein Treppenhaus - und am
oberen Fuß der Treppe ein kleiner, dunkler Raum mit einer weiteren Tür.
    Dort stand er nun. Seine
Neugierde verabschiedete sich mehr und mehr. Stattdessen nistete sich ein
leichtes Gefühl der Enttäuschung in seinen Gedanken ein.
    Sollte das etwa alles
gewesen sein?
    Nun würde er den Keller also
verlassen. Den Keller, in dem er so viel Zeit verbracht hatte. Den Keller, in
dem er unzählige Untermenschen ermordet hatte. Den Keller, in dem er zur Elite
gehörte.
    Was würde draußen auf ihn
warten? Würde er draußen immer noch zur Elite gehören? Er bezweifelte es.
Draußen gab es sicherlich nur normale Kerle von der Straße. Die mochten es
nicht, wenn man Untermenschen ermordete. Die würden sich nicht mit ihm
anfreunden wollen.
    Würden draußen seine Freunde
auf ihn warten? Seine Familie? Würden sie ihn wiedererkennen? Würde er sie
wiedererkennen? Und wollte er sie überhaupt wiedersehen?
    Er nahm sein Gewehr in die
linke Hand und legte seine rechte Hand auf den Türgriff. Das war also der
Moment, auf den er gewartet hatte, seit er hier drin aufgewacht war. Er musste
nur noch den Türgriff nach unten drücken, die Tür öffnen und nach draußen
gehen. Dann war alles vorbei. Dann hatte er alles hinter sich.
    Er drückte den Türgriff
nieder. Dann öffnete er die Tür - jedoch nur einen Spalt weit. Strahlend weißes
Licht fiel durch den Spalt und schnitt das Zwielicht des Kellers in zwei
Hälften. Das blendende Weiß ließ ihn innehalten und lauschen. Draußen - wo
immer dieses Draußen auch sein mochte - hörte er nichts. Es herrschte absolute
Stille.
    Was würde geschehen, wenn er
diese Tür nun vollends öffnete? Würden sie ihn tatsächlich einfach so nach
draußen spazieren lassen, in seinen zerschlissenen und geflickten Klamotten?
Mit einem geladenen
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